Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
aber ein Gedanke«, murmelte Crocoll mit schmalen Augen, als er den altertümlichen Röhrenmonitor ausschaltete. »Ich meine fast … Richtig, Anfang August war Annabell krank. Sie hat Depressionen, müssen Sie wissen, seit vielen Jahren schon. Und dann muss sie immer diese schrecklichen Medikamente nehmen, die sie so müde machen.«
»Benutzt außer Ihnen noch jemand den Wagen?«, wollte Balke ungerührt wissen.
Crocoll schüttelte müde den Kopf. »In diesem Punkt bin ich ein wenig eigen.«
»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir Ihnen Gesellschaft leisten, während wir auf die Kollegen warten?«, fragte ich.
In den letzten Minuten schien jede Kraft aus dem Mann gewichen zu sein. »Aber nein. Bleiben Sie ruhig«, erwiderte er tonlos.
Wir gingen zurück ins Wohnzimmer und setzten uns. Crocoll erhob sich wieder, kaum dass er Platz genommen hatte.
»Ich sollte vielleicht kurz nach Annabell sehen. Sie wird sich fragen, wo ich bleibe. Sie erlauben doch …?«
Zum ersten Mal, seit er in der Küche gewesen war, sah er mir wieder in die Augen, und in dieser Sekunde wusste ich, dass wir hier richtig waren.
»Sie haben nichts dagegen, wenn mein Kollege Sie begleitet?«
Noch während ich sprach, sprang Balke auf. Die beiden gingen hinaus. Ich hörte sie die Treppe hinaufsteigen und dabei einige halblaute Worte wechseln.
Mein Handy brummte.
»Die Frau ist vor Jahren für einige Monate in der Geschlossenen gewesen«, berichtete Vangelis, ohne Zeit für Förmlichkeiten zu verschwenden. »Das war, nachdem das Kind verunglückt war.«
»Welches Kind?« Mir wurde kalt.
»Die beiden hatten einen Sohn. Peter. Haben wir eben erst erfahren. Peter Crocoll ist vor acht Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Danach ist die Frau völlig zusammengebrochen, und die beiden haben sich komplett zurückgezogen. Selbst die Verwandtschaft hat kaum noch Kontakt zu ihnen.«
Weshalb hatte Crocoll mir das verschwiegen? Verdrängung vermutlich, Vermeiden eines Schmerzes, den man so unendlich gut kannte.
Als ich das Handy auf den Tisch zurücklegte, durchzuckte mich etwas wie ein Stromschlag. Das Bild des Esstischs im Nebenzimmer erschien vor meinem geistigen Auge. Auf dem Tisch hatte Besteck gelegen, Teller standen bereit, waren jedoch noch nicht auf die Plätze verteilt.
Drei hatte ich gesehen.
Drei Teller.
Schon als ich aufsprang, war mir klar, dass alles schiefgegangen war. Dass ich ein Idiot war. Ein leichtgläubiger Trottel, der sich von einem stillen, alten Mann wie ein Anfänger an der Nase herumführen ließ.
Augenblicke später stand ich neben einem sehr verdutzten Sven Balke und bollerte mit aller Kraft gegen die Tür, vor der er Wache hielt.
»Aufmachen!«, brüllte ich. »Machen Sie sofort auf!«
Ich drückte die Klinke, aber natürlich war abgeschlossen. Innen war es still. Viel zu still.
»Notarzt«, zischte ich in Richtung Balke und nahm Anlauf. Aber die Tür war verflucht widerstandsfähig.
Balke hatte endlich begriffen, zückte seine Heckler & Koch, ich trat einen Schritt zur Seite, und er gab in rascher Folge drei Schüsse gegen das Schloss ab. Ich warf mich erneut gegen die Tür, und diesmal krachte sie auf. Ich taumelte in ein großes, plüschig eingerichtetes Schlafzimmer mit breitem Fenster.
Das Erste, was ich sah, war die Frau. Sie lag auf dem linken Bett, die Augen starr zur Decke gerichtet, die rechte Hand in der Herzgegend, wo sich ein dunkler Fleck ausbreitete. Adam Crocoll hockte zusammengesunken auf dem anderen Bett. Das Messer hielt er noch in der Hand. Das Küchenmesser, das er vorhin in den wenigen Sekunden an sich genommen hatte, die er außerhalb meines Gesichtsfelds gewesen war. Sein Blick war matt und sehr, sehr traurig.
»Lassen Sie das«, keuchte ich. »Ich bitte Sie!«
Langsam hob er die Hand. Langsam, während er mir immerzu ins Gesicht sah, stach er zu. Es war kein Triumph in seinem Blick, keine Angst, nur Trauer.
24
Wir fanden Gundram Sander in einem liebevoll als Kinderzimmer hergerichteten, fensterlosen und schalldichten Kellerraum. Die massive Tür hatte nur an der Außenseite eine Klinke. Verängstigt, aber auf den ersten Blick unverletzt, hockte er mit hochgezogenen Knien auf dem Bett. Um ihn herum gab es alles, was ein Junge seines Alters sich wünschen kann: eine Autorennbahn, halb so groß wie das Zimmer, Berge von Legosteinen und Bilderbüchern, CDs, eine Playstation, einen Fernseher, in dem bei abgedrehtem Ton eine amerikanische Comicserie lief.
Eine
Weitere Kostenlose Bücher