Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
zeitlebens sehr zurückgezogen gelebt, hatte ich vorhin am Telefon erfahren. Hier in Feudenheim pflegten sie offenbar keinerlei Kontakte, und auch kein früherer Nachbar schien die beiden wirklich gekannt zu haben. Unter seinen ehemaligen Kollegen gab es niemanden, der den stets zuvorkommenden und hilfsbereiten Adam Crocoll als seinen Freund bezeichnet hätte.
»Haben Sie Kinder?«, fragte ich, während wir uns erhoben.
Crocoll schlug die Augen nieder.
»Leider nein«, erwiderte er leise. »Um Scheffel zu zitieren: Es hat nicht sollen sein.«
Plötzlich sah er auf. Sein Blick war jetzt sehr ernst.
»Und wenn ich vielleicht zu diesem Punkt meine Meinung äußern darf: Hätten die Eltern ein wenig besser auf ihr Kind geachtet, dann wäre so etwas nicht geschehen. Wie kann man denn einen Jungen von sechs Jahren alleine mit dem Fahrrad losziehen lassen?«
Balke räusperte sich, sah kurz auf seine Füße, dann wieder in das Gesicht des Mannes, dessen Blick trotz unseres schwerwiegenden Verdachts so unglaublich entspannt und ruhig blieb.
»Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn wir uns später kurz Ihren Wagen ansehen?«, fragte er rau.
»Weshalb sollte ich?«
Oben war es die letzten Minuten über still geblieben.
Wir folgten dem schlanken Mann in den Vorraum. Wieder kamen wir an den unzähligen, liebevoll arrangierten Landschaftsaufnahmen vorbei. Rechts stand eine Tür halb offen, die in ein in warmen Farben eingerichtetes Esszimmer führte. Anscheinend war der Hausherr dabei gewesen, den Tisch zu decken, als wir kamen. Aus der Küche duftete es appetitlich.
Crocoll bemerkte meinen aus Gewohnheit herumschweifenden Blick.
»Wir essen immer sehr zeitig. Vielleicht eine Folge des Alters und der damit verbundenen Langeweile. Sie entschuldigen mich bitte für einen Augenblick, der Herd, nicht dass etwas anbrennt …«
Er verschwand kurz in der Küche, und schon zwei Sekunden später war er wieder bei uns.
Irgendetwas in seinem Blick hatte sich verändert.
Crocoll drehte den Schlüssel in einer stählernen Feuerschutztür, drückte einen Lichtschalter, und wir betraten eine geräumige Doppelgarage, in der sogar der große und gut gepflegte Geländewagen ein wenig verloren wirkte.
»Öffnen Sie bitte den Kofferraum«, sagte Balke mit amtlicher Miene.
Crocoll drückte einen Knopf am Autoschlüssel, den er im Vorbeigehen von einem Haken genommen hatte. Mit leisem Klacken schwang die Klappe auf.
»Sauber ausgesaugt«, stellte Balke fest.
»Man hat so schrecklich viel Zeit im Ruhestand. Früher hat es da drin nicht immer so ordentlich ausgesehen.«
»Um jeden Verdacht auszuräumen, würde ich Ihren Wagen gerne von unseren Spezialisten untersuchen lassen«, sagte ich freundlich. »Keine Sorge, das wird nicht lange dauern.«
Crocoll sah immer noch in den leeren Kofferraum. »Wie darf ich mir das vorstellen? Werden Sie meinen Wagen in seine Einzelteile zerlegen und anschließend wieder zusammenbauen?«
Wieder lachte er auf seine leise und niemanden verletzende Art. Er musste ein vorzüglicher Verkäufer gewesen sein. Aber dennoch – irgendetwas war seit wenigen Sekunden anders als zuvor.
Plötzlich wurde mir klar: Er mied meinen Blick.
»Wir werden Faserspuren nehmen«, erklärte ich. »Mit Klebestreifen. Es geht wirklich sehr schnell.«
Crocoll nickte langsam. »Ich glaube, das habe ich schon irgendwann im Fernsehen gesehen. Ich wusste allerdings nicht, dass man das in der Realität tatsächlich so macht.«
»Was daran haften bleibt, ist das, was unsere Spezialisten interessiert: feine Fusseln, Haare, mikroskopisch kleine Hautschuppen.«
Balke hatte uns den Rücken zugewandt und telefonierte halblaut. Ich hörte, wie er die Adresse durchgab und den Straßennamen zweimal ungeduldig wiederholte.
Als wir den Vorraum wieder betraten, nahm ich mir die Zeit, einige der Fotos zu betrachten. Neben Landschaftsaufnahmen gab es auch vereinzelt welche, die Personen zeigten. Genauer, die immer gleiche Person: eine rundliche, nicht sonderlich attraktive und meist in sich gekehrt lächelnde Frau. Unschwer zu erraten, um wen es sich dabei handelte.
»Hier entlang bitte.« Crocoll öffnete eine Tür neben dem Eingang, die ich vorhin nicht bemerkt hatte. Dahinter befand sich eine Art Arbeits- und Bastelkammer. Auch hier herrschte penible Ordnung. Der PC, ein älteres Modell, summte schon, und Augenblicke später war geklärt, dass sich auf der Festplatte keine Fotos mit dem gesuchten Datum befanden.
»Da kommt mir
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