Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Meter von ihm entfernt stand, war weitergefahren und hatte den Schaden anderntags bei Sergej flicken lassen.
Diese Nacht hatte eine reinigende Kraft besessen. Kurze Zeit nach dem Unfall hatte Marlon einen Strich unter die Drogen gezogen. Sein Leben war von der Überholspur auf den Randstreifen geschwenkt. Besser so. Viel besser.
Marlon drehte eine Rasterstellung zurück. Für einen Moment verschwamm das grelle grüne Bild, und er sah in das gebrochene Auge eines Rehs. Marlon atmete tief ein, kniff die Lider zusammen, schüttelte sich und besann sich auf seine Körpermitte. Das Bild verschwand.
Zwei Kameras über dem Haupteingang, zwei an den Ecken des Gebäudes, auf der Rückseite vermutlich ebenfalls ein Paar. Sie würden mit Superweitwinkelobjektiven ausgestattet sein, im wechselseitigen Takt schwenken und jeden Zipfel des Areals erfassen. Keine Chance. Marlon zischte leise »Shit«, zog sich das Nachtsichtgerät vom Kopf und ließ es wieder im Kofferraum verschwinden. Wenn ein unbeobachtetes Eindringen nicht möglich war, dann müsste eben die gute alte Überrumpelungstechnik herhalten. Die Chancen, damit durchzukommen, standen nicht schlecht. Es war vor zweiundzwanzig Uhr. Die Hauptpforte würde noch offen stehen. Drinnen eine Nachtwache, vielleicht ein Arzt und ein, zwei Pfleger oder Schwestern.
Marlon nahm die Pistole und eine Jeansjacke aus der Sporttasche, zog die Jacke über und steckte die Waffe vorn in den Hosenbund. Er betrachtete sich im Außenspiegel. Der Knauf der Waffe war zu erkennen. Das sollte reichen. Dann zog er das Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche, sortierte die Karten neu, schob den Presseausweis in das vordere Klarsichtfach und steckte die Börse zurück.
Tocktock,
pochte die Halsschlagader, und Marlon fühlte die Nässe unter den Achseln, als er die schwere Klinikpforte öffnete. Geradewegs ging er über den mit geometrischen Ornamenten übersäten Kachelboden des Foyers auf den Empfang zwischen den beiden mächtigen Säulen zu, die sich in der mit Stuck reichverzierten Decke verloren. Der junge Mann am Portal mochte ein Student sein, schlaksiger Typ knapp über zwanzig, die Haare wie ein englischer Popmusiker aus den Neunzigern an den Kopf geklatscht und nach vorne gekämmt, dazu eine Kapuzenjacke, auf der vorne das Logo von Manchester United prangte. Als er Marlon bemerkte, zog er die Stöpsel seines iPods aus den Ohren und sah fragend von den Lehrbüchern auf, die hinter dem Tresen ausgebreitet waren. Leise klang Oasis aus den herabbaumelnden Hörern.
»Die Besuchszeit ist schon lange vorbei«, sagte der Junge ohne Gruß.
»’n Abend.« Marlon fletschte die Zähne zu einem Lächeln, zog das Portemonnaie aus der Tasche und klappte es auf, damit der Knabe einen Blick auf den Ausweis werfen konnte. Mit dem Daumen deckte Marlon den Schriftzug »Presse« auf der linken Seite der Karte ab.
»Kraft. Kriminalpolizei. Wo finde ich Herrn Engberts?«
»Äh.« Der Britpopper rollte mit den Augen. »Wahrscheinlich zu Hause? Es ist kurz vor zehn.«
Marlon klappte die Geldbörse blitzschnell wieder zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der Student mit offenem Mund auf den Pistolengriff schaute, der unter der Jacke hervorlugte.
»Das ist aber schlecht. Ich habe mit ihm vereinbart, dass er mir heute für ein paar Fragen zur Verfügung steht – wie auch sein Patient Jürgen Roth.«
»Ja, äh, da kann ich jetzt irgendwie auch nichts machen, da müssen Sie morgen wiederkommen.«
»Hm.« Marlon schürzte die Lippen und sah auf seine Uhr. »Geben Sie mir bitte die Telefonnummer von Herrn Engberts.«
»Äh …«, stammelte der Student, »… die, äh, kann ich Ihnen nicht geben, die habe ich auch nicht. Ich könnte allenfalls Dr.Wehleit fragen, der hat Bereitschaft.«
»Der bringt uns auch nicht weiter, weil er keine Ahnung hat, wer ich bin und was ich will. Zu Ihrer Kenntnis: Es geht um Ermittlungen im Zusammenhang mit den Serienmorden. Sie haben sicher davon gehört.« Marlon zog das Prepaid-Handy hervor, das Sergej ihm gegeben hatte, und drückte wahllos auf vier Tasten. Der Student sah ihm mit offenem Mund dabei zu. Offenbar konnte er es nicht fassen, plötzlich eine Rolle in einem der erschütterndsten Kriminalfälle zu spielen, die diese Stadt jemals gesehen hatte, und schien abzuwägen, ob das eher extrem gefährlich oder zur Attraktion auf der nächsten Party werden konnte.
»Hallo, Susi«, sprach Marlon in das Telefon, aus dem nur ein leises Rauschen kam. »Suchst du mir
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