Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Ausgangssituation zurückkehren können, ohne über seine Abwesenheit Rechenschaft ablegen zu müssen. Er braucht einen Plan. Eine Struktur.
Traf das alles auf Marlon zu? Bedingt. Er kannte die Opfer persönlich. Er hätte auch die Zeit gehabt. Doch die Morde waren konzipiert, regelrecht designt, und folgten einem Ritual. Sie bauten aufeinander auf. Es war ausgeschlossen, dass ein kalkulierender Täter in Phasen eines Blackouts, der mal fünfzehn Minuten, mal fünf Stunden andauern konnte, einen solchen logistischen Akt schultern konnte. Affekttaten, ja. Unstrukturierte, emotional motivierte Morde, durchaus. Aber nicht diese Serie.
Und wenn die Morde doch auf seine Karte gingen? Wenn die Blackouts nur vorgeschoben waren? Wo wäre sein Motiv, sein Ziel? Warum würde er zum Drachen werden wollen? Um mächtiger zu sein als wer oder was?
Alex schüttelte den Kopf. Nein, das alles war zu perfekt, lehrbuchmäßig und eindeutig. Sachlich und an den Indizien bemessen, musste Kraft mit hoher Wahrscheinlichkeit der Täter sein. Intuitiv gesehen: niemals. Doch falls er nicht der Täter war – was war die Alternative? Wer sollte es auf Marlon abgesehen haben? Und warum?
Zeit. Denk an die Zeit. Wer hätte die Zeit dazu? Wer würde sich die Zeit nehmen? Und wer würde die Zeit als ein Instrument gegen die Polizei einsetzen können?
Wer könnte Kraft unerkannt beobachten? Wer würde Sandra Lukoschik ansprechen können, ohne Misstrauen zu erwecken? Und wie sah das bei Juliane Franck aus? Warum war es bei Viviane Rückert anders gewesen? Der Täter hatte sie beim Schwimmen überwältigt. Spielte dieser feine Unterschied im Modus Operandi eine Rolle? Gewiss. Alles spielte eine Rolle.
Alex ging auf und ab. Sie würde keine Antwort finden. Der Ansatz war immer noch der falsche. Sie beschloss, dass die Fußnägel warten mussten, schaltete den Jura-Kaffeeautomaten ein, dessen Mahlwerk sich sirrend in Bewegung setzte, hockte sich vor den PC und öffnete Google. Was hatte Kraft gesagt: Glücksberg? Sie tippte den Namen ein und öffnete die erste Seite, die die Suchmaschine ihr anbot. Eine Weile surfte sie durch die Verzeichnisse, las dann auf anderen Seiten etwas nach und lehnte sich seufzend zurück.
Tja, das machte es nicht einfacher. Glücksberg war eine Mennoniten-Kolonie in Paraguay. Eine von vielen, die neuste und größte. Paraguay ermöglichte es Mitgliedern dieser Glaubensgemeinschaft seit Jahrzehnten, einzureisen und nach dem eigenen Willen frei zu leben. Mittlerweile war die weiße Oberschicht bis zum Wirtschaftsministerium von ihnen durchdrungen, und die Regierung ermöglichte es den Kolonien, autark zu leben. Folglich gab es Hunderte kleiner Staaten im Staat mit eigener Gesetzgebung, eigener Polizei, eigenem Schulwesen und eigenen Kliniken. In Deutschland wurden die Mennoniten angeworben, ihre Ersparnisse in ein Leben in den Kolonien zu investieren, wo das tägliche Leben wie in einem Kibbuz oder einer Kolchose organisiert war. Mit den Einnahmen finanzierten die Gründer den Bau der Kolonien. Alex hatte Fotos mit Baumaschinen gesehen, Straßen und zig Gebäude. Wie sie gelesen hatte, handelte es sich bei dem Gründer der Kolonie Glücksberg lediglich um einen kleinen Immobilienmakler aus einem Kaff. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Bank ihm eine Kreditlinie von vielleicht fünfzig Millionen Euro für ein Projekt wie den Bau einer kompletten Stadt in der südamerikanischen Pampa geben würde.
Alex legte die Füße auf den Schreibtisch, schlug die Beine übereinander, spreizte die Zehen und trank einen Schluck aus der eiskalten Schweppes-Flasche. Die Kohlensäure prickelte in ihrer Kehle. Staatliche Kredite. Spenden. Vielleicht auch noch andere Quellen. So ein Staat im Staat könnte eine hervorragende Geldwaschanlage sein – und wer wusste, was in einem solch hermetisch abgeschlossenen System noch alles möglich sein mochte. Aber was hatte das mit den Morden zu tun? Alex stellte die Flasche beiseite und tippte den anderen Begriff in die Suchmaschine:
Purpuradragon.
Immerhin – Kraft hatte nicht gelogen. Eine merkwürdige Seite, das sagte die Kriminologin in ihr schon nach wenigen Augenblicken. Faktisch gesehen eine Tarnseite, die keinen anderen Zweck zu haben schien, als den Zutritt in einen abgeschlossenen Bereich zu ermöglichen. Jeder Interessierte konnte unkompliziert mit einem Passwort zugreifen und sich einloggen. Profitorientierte Organisationen nutzten oft solche Konzeptionen. Werde
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