Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
er sich nicht denken, dass die Polizei ihn orten würde? Vertraute er ihr so sehr, oder war er gerade mit anderen Dingen so beschäftigt, dass er gar nicht an die Möglichkeit dachte?
Kraft klang mittlerweile vollkommen nüchtern. »Ich hatte nicht die Zeit, mir das ganze Material auf dem Stick anzusehen. Der Stammordner ist außerdem verschlüsselt, den müssen Sie knacken lassen, das ist Ihr Job, Sie sind die Polizistin. Aber was ich gesehen habe, Alex, hat gereicht, um mir ein Urteil zu bilden – und nach allem, was ich bislang weiß, stellt sich für mich die Sachlage folgendermaßen dar: Eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Dr.Engberts hat ein neues Medikament für militärische Zwecke entwickelt und es C- 12 genannt. Sie wissen vielleicht, dass Jet-Piloten und Spezialeinheiten so etwas wie Speed oder Amphetamine einnehmen, um wach zu bleiben. Das C- 12 geht weit darüber hinaus. Es verfolgt den Zweck, Soldaten ihre Angst im Einsatz zu nehmen, damit sie effektiver agieren können und Ausfälle wegen psychischer Reaktionen minimiert werden. Hochwirksame Pillen für das Vergessen, Emotionskiller. Das Präparat hat aber noch eine andere Wirkung: Es lässt sich in einer weniger potenten Dosierung als Medikament gegen traumatische Erfahrungen einsetzen und verspricht einen Durchbruch auf dem Gebiet – sozusagen als kollateraler Effekt.«
Da waren sie. Die fehlenden Puzzleteile. Kraft war es tatsächlich gelungen, das Mosaik zusammenzufügen. Aber was hatte das mit den Morden zu tun? Alex sah Mario weiter im Kreis laufen, das Handy fest ans Ohr gepresst.
»Die Medikamente für das Militär werden getestet«, erklärte Kraft weiter. »Dazu sind Experimente an Menschen erforderlich, die unter maximalem Druck stehen. Aber wo können solche Versuche durchgeführt werden? In einem autonomen Staat im Staat mit eigenen Gesetzen lässt sich gegen Geld alles machen, und diesen Staat finden die Auftraggeber in Paraguay in einer mennonitischen Kolonie namens Glücksberg. Und wer sind die perfekten Versuchskaninchen? Psychisch Kranke, die an den Symptomen leiden, die das C- 12 gar nicht erst aufkommen lassen soll. Die Patienten werden bei den Tests massiv unter Stress gesetzt und parallel dazu mit C- 12 behandelt, um zu sehen, was passiert. Wir reden über Menschenversuche, Alex, und Engberts stellte dafür Material zur Verfügung. Sicherlich gegen einen guten Preis.«
»Okay, alles klar«, hörte Alex Mario sagen, der sein Gespräch beendete und wieder zum Wagen herüberkam. »Alex, hast du ein Navi?«, fragte er leise. Alex schüttelte den Kopf. Aber sie hatte ihr Laptop dabei, und möglicherweise verfügte das Drive-in wie viele andere Fastfood-Restaurants über einen Hotspot – ein Knotenpunkt, über den man sich per Funk mit dem Internet verbinden lassen konnte. Der Wagen parkte zwar rund zwanzig Meter von dem Hauptgebäude entfernt, es kam auf einen Versuch an. Alex deutete mit dem Daumen hinter sich. Kowarsch sah sie zunächst fragend an, schien dann aber zu begreifen. Er langte auf den Rücksitz, zog aus der dort liegenden Tasche ein silbernes MacBook hervor, klappte es auf dem Beifahrersitz auf und fuhr das Betriebssystem hoch.
»Unter den menschlichen Versuchsobjekten«, sprach Marlon weiter, »befanden sich Jürgen Roth und Ludger Siemer – beide waren bei Engberts in Behandlung und perfekte Objekte für seine Forschungen in Paraguay. Während der Versuchsphase durchlitten sie fürchterliche Dinge, und Roth hat in Siemer während der Experimentphase so etwas wie einen Bruder gesehen. Immer wieder wurden an ihnen künstliche Schocks generiert. Immer wieder erhielten sie das C- 12 , auf dessen Verpackung sie den purpurnen Drachen als Firmenemblem sehen. Stück für Stück ist dieser Drache dabei für Roth zu einem Schutzschild geworden, zu einem Symbol für die Macht über die Angst. In Roths Phantasie sollte der Drache ihn und seinen Leidensgenossen Siemer vor den schrecklichen Ereignissen in Paraguay schützen. Und das C- 12 , Alex, macht uns stark und mutig. So wie die Kampftruppen im Irak und sonst wo auf der Welt, wo es bereits im Einsatz ist. Ich weiß es, ich habe es selbst genommen.«
Was Kraft gerade erzählte, war unfassbar. Und doch war Alex zunehmend davon überzeugt, dass es sich dabei nicht um ein Hirngespinst handelte. Alles hatte Hand und Fuß. Auch sie hatte den Drachen auf den Medikamenten-Verpackungen gesehen. Sie war ebenfalls auf der merkwürdigen Purpuradragon-Homepage gewesen.
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