Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Wahnvorstellungen, die im Kontext mit dem auslösenden Ereignis standen, und eine Abfolge von zielgerichteten Ritualmorden an Menschen aus dem persönlichen Umfeld, die wie auf Knopfdruck in einer irrsinnigen Geschwindigkeit abliefen, was das einzige Atypische daran zu sein schien. Dennoch passte es ins Raster, wenn sie die C- 12 -Medikation hinzuzog, die Ängste und Hemmschwellen bei Marlon herabgesetzt und sozusagen die Türen erst geöffnet hatte. Das Medikament mochte auch der Grund dafür sein, dass es keine klassische Vorgeschichte gab – was zu den Ausreißern zählte, die Alex vermerkt hatte.
Normalerweise durchlief jeder Straftäter eine Karriere – vor allem ein Serienmörder –, sofern er nicht im Affekt handelte. Foltern von Tieren, dann Übergriffe auf Schwächere, eine Vergewaltigung, schließlich irgendwann der erste Mord: Solche Täter folgten einem Trieb, einem Drang, einer Leidenschaft, die sie irgendwann nicht mehr beherrschen konnten, und sie verquickten ihre Taten mit Elementen der eigenen Vita und persönlichen Ritualen, über die sie im Fall von Marlon einfach zu wenig wusste – auch wenn die Aussagen der in Viviane Rückerts Praxis konfiszierten Unterlagen einen schwachen Menschen zeichneten, der aus der Bahn geworfen war und gelegentlich von den Geistern seiner Vergangenheit heimgesucht wurde. Hunderttausenden Menschen ging es da nicht anders, und die wurden deshalb nicht zu Mördern. Und so aseptisch das Vorgehen des Täters auf der einen Seite war, so sehr schlug der Mord an Ludger Siemer aus der Art. Selbst wenn Kraft sich zwischendurch in Düsseldorf aufgehalten haben mochte – diese Tat passte nicht ins System, und ein Serientäter änderte sein Schema allenfalls, wenn das Morden ihm langweilig wurde und das Töten auf die hergebrachte Art und Weise ihm keine Befriedigung mehr brachte. Außerdem gab es da noch etwas, was nicht in das Raster gehörte, aber Alex kam einfach nicht darauf, sosehr sie sich auch konzentrierte – etwas gefiel ihrem Bauch ganz und gar nicht. Etwas, was sie bislang übersehen hatte.
Dennoch musste sie sich an die Fakten halten. Die Sachlage und der Stand der Ermittlungen sprachen gegen Kraft. Es wurde von ihr erwartet, ihn vor eine Form zu halten und einzuschätzen, ob er hineinpasste. Das tat er. Ihn in die Form zu pressen war der Job von anderen. Nicht ihrer. So war das nun mal.
Und die ganze Engberts-Paraguay-Sache – nun, das würde sicherlich noch ein ganz anderes Straf- und Ermittlungsverfahren nach sich ziehen. Den Stick, den Marlon ihr in den Briefkasten geworfen hatte, hatte die Spurensicherung nebst seinem Handy in ihrem Briefkasten sichergestellt. Es würde sicher bis zum Nachmittag dauern, bis sie die Daten vorliegen hatte. Bei dem Telefon handelte es sich um ein Prepaid-Modell. Kowarsch war unterwegs, um zu ermitteln, woher es stammte. Damit ging er außerdem dem unangenehmen Gespräch aus dem Weg, das Marcus ihm angekündigt hatte.
Alex seufzte und beschloss, noch einmal das VICLAS -System nach Marlon zu durchforsten. Marcus hatte zwar bereits eine Eil-Online-Anfrage an die Zentralstelle gerichtet und – bis auf Ludger Siemers Daten – einige eher nutzlose Ergebnisse erhalten, aber auch wenn er in der Behörde als Crack galt, konnte er die Klaviatur der computergestützten Fahndung in Alex’ Augen nicht sonderlich gut bedienen, und zudem hatte er das Erhebungsformular sehr allgemein ausgefüllt. Alex war mit ihren Zugangsdaten, die sie in der Ausbildung beim BKA erhalten hatte, nach wie vor freigeschaltet. Niemand hatte sich bislang die Mühe gemacht, ihren Account zu löschen.
Sie schlüpfte zurück in ihre Schuhe, nahm den Kaffeebecher und ging in Marcus’ Büro. Im Moment war die Software zu Testzwecken nur auf seinem Rechner installiert. Auf den alten PC s in den übrigen Büros lief das Programm nicht, und vor Herbst war mit einem Hardware-Update nicht zu rechnen.
Marcus war noch nicht da. Möglicherweise schlief er sich von dem nächtlichen Einsatz gestern am Luisenstift noch aus oder ermittelte bereits auf eigene Faust. So genau wusste man das bei ihm nie. Er kam und ging, war gelegentlich für Stunden fort und kam dann stumm und schlecht gelaunt wieder zurück. In den letzten Tagen war er immer unausstehlicher geworden. Der Stress, die Sorgen und der Druck waren in seinen Zügen deutlich abzulesen. Sie musste es ihm nachsehen, wenn er gelegentlich ruppig mit ihr umging. Er meinte es sicher nicht so. Sie wollte und
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