Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
war hochgefährlich für Marcus selbst. Es handelte sich um die Unterschlagung von Beweismitteln – zumal in einem Fall solchen Ausmaßes. Wie konnte er nur dieses Risiko eingehen?
Gedankenverloren zwirbelte Alex in einer Haarsträhne und scrollte durch die weiteren Daten in dem Ordner. Ermittlungsergebnisse, Berichte aus den letzten Tagen, eine ganze Reihe alter Scans von Zeitungsberichten über diverse Kriminalfälle sowie Pressefotos, die Marlon offensichtlich der Polizei zur Verfügung gestellt hatte. Die Bilder zeigten Tatorte, Brände, Sparkassen-Foyers, ermittelnde Beamten, mit Polizeiabsperrungen versehene Wohngebäude und Unfälle. Einige der Unfallbilder hatten nicht den typischen mit IMG oder DSC beginnenden Dateinamen von Digitalkamera-Bildern, sondern waren Scans von analogen Aufnahmen. Sie zeigten zertrümmerte Wracks, zerfetzte Motorräder. Auf drei Detailansichten mit der Bezeichnung MK 1 , 2 , 3 war die mit Blut verschmierte, zerfetzte Front eines silbernen Wagens zu sehen, der …
»Sitzt es sich gut hier, Frau Hauptkommissarin?«, fragte Marcus. Alex zuckte zusammen. Hektisch klickte sie den Ordner weg und öffnete den VICLAS -Zugang.
»Oh, j-ja, ich wollte schon mal probesitzen?« Alex versuchte ein verkrampftes Lächeln.
»Okay.« Marcus stellte seinen Teller mit dem Brötchen auf den Besprechungstisch und trank einen Schluck dampfenden Kaffee. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Bin heute etwas später, weil es gestern noch lange gedauert hat. Tatsächlich ging schon die Sonne auf, als ich unter der Dusche stand. Aber der verdammte Brandgeruch hängt mir noch immer in den Haaren.«
»J-ja. Ich habe auch alle Klamotten zum Auslüften auf den Balkon gehängt.«
»Wir haben vier Tote. Allesamt Bewohner«, seufzte Marcus. »Eine Leiche lag in Roths Zimmer. Wir können wohl davon ausgehen, dass er der Tote ist. Und wenn du recht hast, ist er damit das vierte Opfer und entspricht dem vierten Symbol in dem Tierkreis. Die Frage ist, was als Nächstes kommt.«
»Der Drache«, flüsterte Alex.
»Ja, so ist es wohl. Und ich kann es kaum abwarten, ihn kennenzulernen.«
»Trotzdem passt es einfach nicht ins Bild. Alle Opfer waren Frauen aus Krafts Umfeld. Es waren Ritualmorde, und der Täter wollte seine Opfer zeigen, präsentieren. Der Mord an Roth – das ist etwas völlig anderes. Außerdem sind weitere Menschen umgekommen.«
»Kollateralschäden?«, fragte Marcus und schnalzte mit der Zunge. »Wo gehobelt wird, fallen Späne.«
»Denkbar, ja.« Alex wickelte die Haarsträhne um den Finger.
Marcus nickte und trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Wir werden den Grund herausfinden. Sicherlich wird sich auch aus der Obduktion noch etwas in Erfahrung bringen lassen, wenngleich bei einem Brandopfer … Na ja. Darf ich erfahren, was du an meinem Rechner machst?«, fragte er, spülte den Mund mit Kaffee durch und bleckte die Zähne.
Alex schluckte. »Ich habe noch eine VICLAS -Recherche gestartet. Für das Gutachten, das du über Marlon Kraft willst. Ich habe auf meinem Rechner ja keinen Zugriff …«
»Hm.« Marcus sah zum Fenster hinaus und lehnte sich an den Besprechungstisch. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
»Eigentlich nicht«, log Alex. »Ich weiß so gut wie nichts über Kraft, über seine Vita.«
Marcus lehnte sich an den Schreibtisch, schlug die Beine übereinander und ließ die Augen über die Bildergalerie an seiner Wand gleiten. Dann sah er Alex wieder an. »Ich kenne Marlon schon sehr lange, und wenn ich ihn beschreiben sollte, würde ich sagen: Er ist Egomane, rücksichtslos, cholerisch und steht gerne im Mittelpunkt. Marlon hat immer schon ein Problem mit Frauen und seinen Gefühlen gehabt. Er hatte immer viele Freundinnen, aber auf etwas Tiefergehendes wollte er sich nie einlassen. Er hat noch nicht mal mit mir über seine verstorbenen Eltern reden wollen, obwohl ich weiß, dass er sehr darunter gelitten hat. Sein Vater hat sich totgesoffen, seine Mutter starb vereinsamt an Krebs.
Marlon lässt solche Sachen nicht an sich heran. Er trägt so etwas wie einen Panzer, weißt du? Er ist die Sonne in seinem eigenen Solarsystem, in dem alles nur um ihn selbst kreist. Als meine Frau ums Leben gekommen war, ist er noch nicht einmal zur Beerdigung erschienen.« Marcus hielt einen Moment inne und schob mit der Fingerkuppe das Porträtfoto auf seinem Schreibtisch zurecht. »Er kommt mit so etwas wie Verantwortung nicht klar, ist stets auf der Flucht vor
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