Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
würde ihn nicht enttäuschen, zumal er in den kommenden Wochen im Rahmen des LKA -Qualitätsmanagements auch einen Quartalsbericht an ihren Supervisor Stemmle abzugeben hatte. Sie hatte Marcus nie gefragt, warum er in dem Bewerbungsverfahren ausgerechnet sie ausgewählt hatte. Vielleicht waren es schlicht und ergreifend spontane Sympathie und das unbewusste Gefühl gewesen, dass es da etwas gab, was sie miteinander verband: ein Stück vom Leben verloren zu haben.
Alex ließ sich in Marcus’ Stuhl plumpsen und betrachtete das Porträtfoto seiner Frau, während der Rechner hochfuhr. Ein Unfall mit Fahrerflucht, hatte Schneider erzählt. Lange her, aber immer noch präsent. Alex wusste, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. So als wäre man einem Raubtier ausgeliefert, das seine Fänge in den Körper schlägt, ein saftiges Stück herausreißt und verschlingt. Zurück ließ es eine Wunde, die immer wieder aufbrach. Man konnte sie behandeln, verbinden, ignorieren, verfluchen. Mit der Zeit verwuchs sie zu hässlichem, vernarbtem Gewebe. Und immer dann, wenn sie für eine kurze Zeit in Vergessenheit geraten war, begann sie plötzlich wieder zu bluten. Niemand, der nicht Ähnliches erlebt hatte, konnte das nachvollziehen. Akzeptieren, vielleicht. Zur Kenntnis nehmen. Mitgefühl zeigen. Aber begreifen?
Als der Startbildschirm geladen war, loggte sich Alex in die Datenbank ein und startete eine Suche. Sie fand kaum vergleichbare Fälle, die derart bizarr waren wie die Ritualmorde an den drei Frauen. Nichts, das irgendwie im Zusammenhang damit stehen mochte. Keine ungeklärten Morde, in denen der chinesische Tierkreis oder eine ähnliche asiatische Symbolik eine Rolle spielte, auch keine geklärten. Sie ließ einige Scans nach Ludger Siemer laufen, fand aber nur das Altbekannte aus den bisherigen Ermittlungen.
Die Marlon-Kraft-Akte allerdings hatte Marcus bislang wie seinen persönlichen Besitz behandelt und nur das Nötigste preisgegeben. In der Suche nach Marlon fand Alex einige Einträge, die sich mit der Geiselnahme in dem Kindergarten befassten. Wie es aussah, war er davor einmal wegen des Verdachts auf Drogenbesitz vernommen worden. Ein Verfahren wegen Körperverletzung vor vielen Jahren hatte mit einem Vergleich geendet, und Marlon hatte einmal seinen Führerschein verloren, weil er betrunken Auto gefahren war. Zwei weitere Karteikarten-Einträge waren gelöscht worden. Alex versuchte einen Anhaltspunkt zu finden, worum es sich dabei gehandelt haben mochte. Aber die Fenster blieben grau und leer.
Sie schloss das Programm, schlüpfte wieder aus ihren Schuhen und stellte die Zehenspitzen auf das kühle Metall des Drehstuhlfußes. Es war kurz vor zehn. Sie war schon früh hier gewesen. Marcus konnte natürlich jeden Moment kommen, aber … Er würde sich sicherlich zuerst in der Kantine ein Brötchen und einen Kaffee holen, so wie er es jeden Morgen tat. Bestimmt würde er nicht allzu spät kommen, denn in jedem Fall wäre eine Dienstbesprechung nötig. Vielleicht noch zehn Minuten, und wenn er sie an seinem Rechner sitzen sehen würde, dann könnte sie immer noch sagen, sie habe nur schnell was im VICLAS nachgesehen.
Was sie in dem Festplatten-Ordner mit der Bezeichnung MK fand, erschreckte sie. Nicht nur, weil er zig Einträge beinhaltete, deren Datierungen darauf hinwiesen, dass Marcus bereits seit längerem Material gegen seinen Freund sammelte. Vor allem erschütterte es Alex, dass es Marcus gewesen sein musste, der die beiden fehlenden Kartei-Einträge gelöscht und als Bildkopien in seinen Ordner abgelegt hatte. Es handelte sich um mehrere Screenshots – Abbilder der Originale. Der eine befasste sich mit einem Verfahren aus Marlons Jugend, in dem es um den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen in Verbindung mit Vergewaltigung ging. Er war damals neunzehn gewesen, das Mädchen gerade vierzehn Jahre alt. Der zweite Fall lag länger zurück. Demnach sollte Marlon mehrere Katzen mit einer Armbrust angeschossen haben.
Beides warf ein neues Licht auf die Angelegenheit. Kraft war mehrfach einschlägig in Erscheinung getreten. Er hatte eine Karriere und bereits Schwellen überschritten. Es gab eine Entwicklung. Alex atmete tief ein. Sie musste sich die Akten besorgen. Irgendwo hier in der Behörde würde sie sie finden, wenn nicht … Marcus. Warum hatte er dafür gesorgt, dass die Einträge verschwanden? Er hatte versucht, eine Tarnkappe über seinen Freund zu werfen. Ja, und das
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