Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache

doch nur von einem Stricher umgelegt? Möglicherweise sind die beiden für den Täter auch aus irgendwelchen Gründen gefährlich geworden oder wussten zu viel – worüber auch immer.«
    Alex schluckte. Nahm Rolf sie nicht mehr ernst? Warum stellte er mit einem Mal alles auf den Kopf – zumal er ihr damit unterstellte, sie würde nicht akkurat arbeiten? Zu viele Interpretationen? Was sollte das heißen, wenn nicht: Du schluderst und siehst Gespenster?
    »Rolf!« Sie rang nach Worten. »Kannst du mir vielleicht mal erklären, was mit dir los ist?«
    Schneider warf ihr einen kurzen Blick zu und schürzte die Lippen. »Ohne dir nahe treten zu wollen, Alex: Manchmal vertieft man sich so sehr in eine Sache, das man das Wesentliche aus dem Blick verliert. Dann muss man noch mal einen Schritt zurückgehen und sich das große Ganze anschauen und gucken, was eigentlich was ist.«
    »Om«, spöttelte Alex, »ist das eine chinesische Weisheit? Sich angucken, was eigentlich was ist?«
    Schneider lachte heiser. »Nee, das war von dem großen Philosophen Rolf Schneider und ist x-fach erprobt. Aber wo wir gerade über China reden – du hattest über diesen Tierkreis gesprochen. Kannst du mir das mit den Symbolen noch mal erläutern?«
    Alex nickte. Natürlich war nicht grundsätzlich auszuschließen, dass die Tode von Siemer und Roth deswegen aus der Art schlugen, weil sie nicht Teil der Serie waren. Aber es war eine Sache, sich diesen Umstand vor Augen zu führen und Schlüsse daraus zu ziehen, und es war eine andere, sich eine Schwäche einzugestehen. »Also«, begann sie, »wir haben in der Reihenfolge die Tierkreiszeichen Ratte, Büffel, Tiger, Hase und Drache. Die ersten vier entsprechen den Opfern Sandra Lukoschik, Juliane Franck, Viviane Rückert und Jürgen Roth. Fehlt noch das fünfte Element, und …«
    »Moment«, sagte Schneider und hob die Hand. »Da war noch was mit den Himmelsrichtungen, richtig? Mit den Drachen des Nordens, des Süden, des Ostens und des Westens?«
    »Ja, diese Himmelsrichtungen haben bislang der körperlichen Ausrichtung der Opfer entsprochen. Sicher, es gibt nur vier Himmelsrichtungen, aber der fünfte Drache wird den Drachengott darstellen, nehme ich an, das Zentrum, das alles in sich vereint.«
    »Ist das mythologisch belegt?«
    Alex zuckte mit den Schultern. »Es ist eine Annahme, mehr nicht. Eine Interpretation. So wie ich es verstehe, schwebt über allem der Oberdrache.«
    Schneider nickte. »Okay, aber eigentlich gibt es nur vier Himmelsrichtungen, auch wenn es möglicherweise fünf besondere Drachen gibt. Und jetzt kommen wir mal auf die vier Elemente, mit denen die Morde etwas zu tun haben.«
    Wieder nickte Alex. »Wir hatten die Erde, die Luft, das Wasser und zuletzt das Feuer. Das fünfte Element wird der Mensch sein, der eine Metamorphose zum Göttlichen anstrebt und mit dem fünften Drachen, dem Drachengott, verschmelzen will.«
    »Okay, aber das ist wieder Interpretation. An sich kennen wir keine fünf Elemente, richtig? Wir kennen nur vier Himmelsrichtungen und vier Elemente. In China mag das anders sein. Wir kennen aber immer nur vier.«
    »Richtig, im chinesischen Tierkreis sind jedem Zeichen Elemente zugeordnet, und es handelt sich dabei um fünf, und …« Alex stockte. Jetzt ahnte sie, worauf Schneider hinauswollte. Er griff hinter sich und zog seine Geldbörse hervor. Aus dem Geldscheinfach nahm er einen karierten Zettel und faltete ihn auseinander.
    »Ich habe mir bei der Besprechung, in der du deine Theorie vorgetragen hast, ein paar Notizen gemacht. Ich habe mir fünf chinesische Elemente aus dem Tierkreis aufgeschrieben, und zwar Holz, Metall, Wasser, Erde und Feuer«, erklärte Schneider.
    »In der westlichen Welt reden wir aber von den Elementen Erde, Feuer, Wasser und Luft«, murmelte Alex atemlos. Genau das war es – wie hatte sie so blind sein können? »Rolf, ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was ich übersehen habe. Die chinesischen Elemente Holz und Metall fehlen in der Mordserie! Dafür tritt als westliches Element die Luft auf. Aber eine Fünf-Elemente-Lehre kennt der westliche Kulturkreis nicht.«
    Schneider nickte und faltete den Zettel wieder zusammen. »Wir haben einen Täter, der seine Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt und die westlichen Elemente mit den östlichen durcheinandergebracht hat.«
    »Möglich wäre«, dachte Alex laut nach, »dass er sich aus den unterschiedlichen Hemisphären eine Individualmystik geschaffen hat. Aber das