Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
unbewussten Wunsch, der Polizei Hinweise zu geben, um endlich gefasst zu werden. Damit es aufhört. Bitte, Marlon, ich versuche es im Guten: Geben Sie mir die Mails, und Sie werden schlagartig von jedem Verdacht entlastet. Die Schreiben werden ja von einem Unbekannten an Sie adressiert, der sich als der Purpurdrache ausgibt.«
»Glauben Sie mir, Alex, das Gegenteil wird geschehen. Ich kann es Ihnen nicht erklären und Ihnen die Mails jetzt noch nicht zur Verfügung stellen. Es würde Sie im Moment nicht weiterbringen. Sie werden die Mails bekommen, versprochen – und ich wette, Sie werden nicht schlecht dastehen, wenn Sie damit etwas Greifbares präsentieren können. Aber im Moment ist es einfach noch nicht möglich.«
Sicher, dachte Alex, sie würde damit gewaltig punkten können. Aber die Schreiben waren einfach zu wichtig, als dass sie sie ignorieren konnte. Kraft hatte ihr tags zuvor erzählt, dass schon einmal ein Täter mit ihm Kontakt gesucht habe: Jürgen Roth, der sich damals ebenfalls als Purpurdrache bezeichnet hatte und derzeit im Luisenstift lebte. Sie hatte Kraft daraufhin gefragt, ob er Feinde habe. Menschen, die sich an ihm rächen wollten. »Jemand wie ich hat da draußen nur Feinde, von denen er nichts weiß«, hatte Kraft als Antwort gelallt. Noch in der Nacht hatte Alex einige Recherchen und Analysen zusammengetragen. Heute Morgen war sie als Erste im Büro gewesen und hatte eine umfangreiche Datenbanks uche durchlaufen lassen. Dabei glaubte sie inzwischen trotz aller auf der Hand liegenden Indizien immer weniger, dass die Fahndung nach Roman König zum Täter führen würde – nicht zuletzt, weil ihr Kraft von den Mails erzählt hatte. Etwas anderes war im Gange, und sie fürchtete, Kraft hatte mit seiner Einschätzung recht, dass Marcus sich auf Sandra Lukoschiks Lebenspartner konzentrierte, um sich nicht seinen Freund Marlon Kraft vorknöpfen zu müssen, der als Ex-Freund eines Mordopfers in das Fahndungsraster gehörte.
»Bitte«, insistierte Marlon. »Geben Sie mir noch einen Tag. Marcus hat bereits in der Redaktion angerufen und sich hinter meinem Rücken nach einem Alibi erkundigt.«
»Er hat – was?«
»Alex, wir müssen miteinander reden. Ich bin einigen Dingen auf der Spur, aber ich brauche noch etwas Zeit.«
»Zeit ist das, was ich nicht habe. Außerdem bin ich heute Nacht auf jemanden gestoßen …«
»Später! Vertrauen Sie mir«, fiel Kraft ihr ins Wort, schob ihr seine Karte zu und verschwand im Strom der anderen Reporter. Ihm vertrauen? War sie wahnsinnig? Andererseits war da etwas, was sie noch nicht in Worte fassen konnte. Und beschlagnahmen, beruhigte sie sich, konnte sie Marlons Computer schließlich immer noch.
Natürlich hatte Marcus gesehen, dass sie nach der PK mit Marlon gesprochen hatte. Als er jetzt neben ihr mit großen Schritten die Treppe erklomm, fragte er scharf: »Was hast du mit Kraft zu schaffen?«
»Er will sich mit mir unterhalten.«
»Worüber?«
»Hat er nicht gesagt.«
Marcus blieb abrupt stehen. »Alex. Sei vorsichtig mit Marlon. Er wird versuchen, dich zu vereinnahmen. Er sucht nach einer neuen Quelle. Einer Vertrauten, weil das Tuch zwischen ihm und mir zerschnitten ist. Es geht ihm nur um Informationen, die er für sich nutzen kann. Wenn er auf der Fährte ist, ist ihm nichts mehr heilig.«
»Vielleicht bin ja ich es, die auf einer Fährte ist. Vielleicht kannst du mich auch wie ein Mitglied deines Teams wahrnehmen, wenn du mich schon zu einem solchen ernannt hast. Vielleicht …«
»Ist da etwas, was ich wissen muss?«
Alex presste die Lippen zusammen und antwortete mit einer Gegenfrage. »Und ist da etwas, was
ich
wissen muss? Du und Kraft, ihr seid Freunde. Er war der Ex-Freund von Sandra Lukoschik. Er hat für den Tatabend kein Alibi. Du grenzt ihn aus der Fahndung aus. Das alles erfahre ich durch Zufall.«
»Alex …«
»Du lobst meine Analysen über den grünen Klee und tätschelst mich. Was für ein kluges kleines Mädchen …« Sie verdrehte die Augen. »Aber sobald ich mich einigermaßen ernst genommen fühle, begreife ich im nächsten Moment, dass du mir nicht vertraust. Dass ich ein Teammitglied zweiter Klasse bin. Frau Doktor. Frau Gräfin. Nein. Das bin ich nicht. Ich bin Frau Polizistin. Und genau wie du und alle anderen suche ich einen Mörder – und ich lege genauso viel Engagement an den Tag wie alle anderen. Schneider ist auf dem Weg nach Samos, Reineking stellt die Stadt auf den Kopf und rührt in allen
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