Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
ungefähr zweihundert Meter geschleppt haben. Wir tippen im Moment darauf, dass er sich womöglich als Lieferant getarnt hat und das Opfer in einer Kiste oder etwas Ähnlichem steckte. Gesehen hat niemand was, und die Tür zum Keller war wohl nicht abgeschlossen, was er entweder wusste oder sich zunutze gemacht hat. Aber wie gesagt: kein Zeuge. Weißt ja, wie die Leute sind – Augen für alles, nur nicht für das, worauf es ankommt. Marcus hat die Kollegen angespitzt, die Ermittlungen auf Lieferwagen und Zulieferfirmen zu konzentrieren. Ich frage mich nur, wer das alles machen soll. Mann, wir sind ’ne kleine Behörde, und der letzte Mord, an den ich mich erinnern kann, liegt locker vier Jahre zurück.«
»Ich hab noch nichts über gestern Abend gelesen bis auf die Persos hier von der Franck«, stellte Kowarsch fest, der aufmerksam zugehört hatte.
»Pff.« Reineking schnallte sich ebenfalls ab. »Wann soll man auch den Bericht schreiben? Dazu kommt ja kein Mensch. Bevor man etwas über das eine Opfer ermitteln kann, ist schon das nächste aufgeschlitzt.«
»Wär ich mal besser noch im Urlaub geblieben.« Kowarsch legte den Kopf schief. »Wobei, na ja, ganz ehrlich: Flieg nie mit deiner schwangeren Freundin in den Urlaub. Die Hälfte deiner Entspannung geht für Stress drauf, den du zu Hause nie gehabt hättest. Und diese Inseln sind groß wie ein Bierdeckel – da kannste dich nicht mal kurz abseilen.«
Reineking lachte meckernd auf, verstummte aber schnell wieder. Er hatte weder eine Freundin noch Geld für eine Malediven-Reise. Was er von seinem Einkommen monatlich für einen Urlaub hätte auf die Seite legen können, ging per Dauerauftrag an seine Ex-Frau, die ihn zum Dank mit den Besuchszeiten für seine Tochter gängelte und unter Druck setzte. Wie eine Marionette. Insofern war Marios Jammern ein Klagen auf hohem Niveau. Er konnte nicht wissen, was ihm noch bevorstünde, wenn seine Liebste ihm in vielleicht vier oder fünf Jahren den Laufpass gab und ihn anschließend zur Kasse bitten würde. Dann würde er jeden Tag an den heißen Sand unter seinen Füßen denken, mit dem es ein für alle Mal vorbei war.
Die Sonne brannte auf den fast leeren Parkplatz des Getränkemarkts. Über dem Mülleimer vor dem Eingang schwebten zahllose Wespen. Als die beiden Polizisten durch die Glastür eintraten, sah das junge Mädchen in rotem Polohemd an der Kasse von seiner Illustrierten auf. Sie war käseweiß, hatte Piercings durch Lippen, Ohren und eine Augenbraue gezogen und japanisch anmutende Tätowierungen auf beiden Oberarmen. Ihre schwarzen Haare trug sie zu Schnecken hochgesteckt. Reineking starrte ihr in den Ausschnitt und erkannte, dass sie auch auf den Brustansätzen tätowiert sein musste. Dann zeigte er wie Kowarsch seine Marke vor und murmelte: »Kripo Lemfeld. Wo ist hier der Marktleiter, wir haben ein paar Fragen.«
»Nicht da«, sagte die Kassiererin lässig und schob sich ein Kaugummi zwischen die Zähne. »Was wollen Sie denn von dem, hat er was ausgefressen? Würde mich nicht wundern.«
»Und warum nicht?« Reineking steckte seinen Ausweis wieder in die Gesäßtasche.
»Na ja.« Die junge Frau schmatzte mit dem Kaugummi, rollte die Augen nach oben und schien einen Moment lang nachzudenken. Dann zuckte sie mit den Achseln. »Würde mich halt nicht wundern. Er ist eben so ein Typ.«
»Seit wann arbeiten Sie hier?«, schaltete sich Kowarsch ein.
»Keine Ahnung. So drei Monate vielleicht?«
»Kennen Sie diese Frau?« Kowarsch schob eine vergrößerte Kopie von Juliane Francks Passbild über den Tresen.
Die Kassiererin legte den Kopf schief, besah sich das Foto und machte eine Blase mit dem Kaugummi, bis sie laut zerplatzte. Reineking ballte die Fäuste und stellte sich vor, wie er den rechten Zeigefinger durch die Piercingringe der jungen Frau ziehen und ihren Kopf mit einem Ruck auf den Verkaufstresen knallen lassen würde. Immer wieder diese dämlichen Rotznasen, die sich toll dabei vorkamen, vor der Polizei einen auf cool zu machen – und dann ausgerechnet solche, die ihr Einkommen statt für Metall im Gesicht und Tinte unter der Haut lieber in einen wirklich coolen Benimm-Kursus bei der Volkshochschule hätten investieren sollen. Solche tätowierten Schlampen wie diese kotzten ihn ganz besonders an. Okay, nicht, wenn sie in Pornofilmen auftraten, aber wenn sie ihm dumm kommen wollten, dann schon – und besonders, wenn sie dazu auch noch dumm waren. Es würde ihn nicht wundern, wenn diese
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