Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
den Fingern spreizte die Ärztin den etwa zwanzig Zentimeter langen Schnitt auseinander. Es sah ein wenig so aus, als zerteile sie ein Stück Kirschstrudel mit der Gabel. »Er hat die Spitze unten angesetzt und sie dann mit einem Ruck nach oben gezogen, so dass die Gedärme aus dem Bauchraum gesackt sind. Meine Annahme wird durch diese Aufnahmen dort unterstützt.« Dr.Woyta deutete auf einige Tatortfotografien, die neben Röntgenbildern an der Wand hingen. »Die langen Spuren an dem Heizkessel weisen zunächst eine feine, zerstäubte Tröpfchenbildung auf und sehen im weiteren Verlauf aus, als habe jemand mit einer Wasserpistole rumgespritzt. Die feine Zeichnung kommt vom ersten wuchtigen Schnitt, die weiteren sind arterielle Spritzer von verletzten Gefäßen. Es gab wie bei Sandra Lukoschik keine Kampf- oder Widerstandshandlungen, hier, sehen Sie.« Dr.Woyta wies auf Juliane Francks Handgelenke, die bis auf bläulich verfärbte Schürf- und Druckspuren von den Fesseln unversehrt waren. »Keine Abwehrwunden. In Bezug auf die Blutverteilung an Wänden und Decke, vor allem wegen der arteriellen Spritzer, ist klar, dass das Opfer noch gelebt haben muss und der Fundort daher mit dem Tatort identisch ist. Ähnlich war das bei Sandra Lukoschik, nur dass die Blutverteilung eine andere war: Sie muss bei dem Schnitt in den Bauch am Boden gelegen haben, und ihr war zusätzlich die Halsschlagader geöffnet worden.«
Alex presste die Lippen aufeinander. »Warum, glauben Sie, schneidet er sie auf?«
Dr. Irina Woyta zuckte mit den Achseln. »Diese Schnitte müssen einen anderen Sinn haben als nur den, die Opfer zu töten. Spermaspuren habe ich in den Wunden jedenfalls nicht entdeckt, er nutzt die Wunden also nicht für diese Zwecke. Auch ansonsten weisen die Opfer keine sexuelle Missbrauchsspuren auf – okay, bis auf die Tatsache, dass Sandra Lukoschik vor ihrem Ableben geschützten Verkehr gehabt haben muss, das kann aber auch Stunden vorher gewesen sein.«
Nun wurde Alex doch etwas anders, und wieder fröstelte sie in der kalten Halle. Die Vorstellung von Spermaspuren in den geöffneten Wunden, dass ein Täter seine Opfer auf diese Art und Weise missbrauchte, war einfach abscheulich.
»Hier jedenfalls«, sagte die Ärztin und deutete auf eine Einstichstelle am Arm der Toten, »hat er wie bei dem ersten Opfer eine Injektion gesetzt, und ich vermute, dass es sich dabei wieder um das Narkosemittel Ketamin handelt. Er trifft sie also irgendwo und verabreicht ihnen eine Injektion, ohne dass sie sich wehren. Dann schleppt er sie zu seinem Tatort und tötet sie dort nach einem Muster, nach einem …«
»Ritual?«
Dr.Woyta schürzte die Lippen. »Ja, warum nicht? Nach einem Ritual, mag sein. Sandra Lukoschik hat er gefesselt, ihr den Kopf am Boden zertrümmert und ihr dann den Leib aufgeschnitten, wobei der Blutverlust tödlich war. Juliane Franck hat er in dem Keller an den Händen aufgehängt, ihr eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und sie mit Klebeband am Hals verschnürt. Dann hat er ihr den Leib geöffnet. Woran sie letztlich gestorben ist, am Blutverlust oder durch das Ersticken, muss ich noch feststellen. In jedem Fall«, die Ärztin deutete auf den Hals und das Gesicht der Leiche, »hat sie in den Augen einige geplatzte Gefäße, was typisch für Erwürgen oder Strangulieren ist, aber bei weitem nicht ausreichend weitere Verfärbungen und Stauungen, was für den zeitgleichen massiven Blutverlust spricht und dafür, dass sie während des Erstickens auch verblutet ist.«
Alex beugte sich etwas vor, um Juliane Francks Nacken genauer betrachten zu können. »Es übertötet seine Opfer, er bringt sie auf mehrere Weisen gleichzeitig um – aber nicht, weil er sichergehen will, dass sie wirklich sterben, es geht mehr um ein …«
»Ritual?«, fragte dieses Mal Dr.Woyta und lächelte. »Wissen Sie, woran ich spontan denken musste bei den Körperschnitten? Passives Harakiri.« Alex sah die Ärztin fragend an. »Also, beim Seppuku, der rituellen japanischen Selbsttötung, ist Harakiri ein Teil des Rituals.
Hara
heißt Bauch und
kiri
heißt Schnitt, und dieser wird L-förmig ausgeführt.« Sie zeichnete mit der Fingerspitze eine imaginäre Linie auf Juliane Francks Körper. »Knapp unter dem Nabel wird angesetzt, dann von links nach rechts und schließlich mit einem Ruck nach oben, wodurch die Aorta verletzt oder durchtrennt wird.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das etwas zu bedeuten hat«, sagte Alex und legte einen
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