Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
zum Wachwerden?«
»Nein, ja, ich meine …«, sagte Marlon matt lächelnd und hob abwehrend die Hände, »… ich brauche schon etwas, aber nicht das, was du meinst. Damit bin ich längst durch.«
»Bist du sicher?« Serge kniff die Brauen zusammen, die wie zwei schwarze Klebestreifen über seinen schräggeschnittenen unbeweglichen Augen saßen.
»Ja.«
»Dabei habe ich wirklich atemberaubende Erfrischungen im Kühlschrank. Direkt und unverzollt aus Kolumbien. Du weißt nicht, was dir entgeht.«
»Danke, Serge, ich weiß das zu würdigen. Die Zeiten sind aber Gott sei Dank vorbei. Ich will dich nicht lange aufhalten, du bist ein beschäftigter Mann …«
»Wie kann ich dir helfen, Marlon?«, fragte Serge und knackte mit den Fingern. »Deine Probleme sind auch meine Probleme.«
Marlon sah auf und schüttelte den Kopf. »Besser nicht, Serge. Besser nicht.« Dann beugte er sich etwas vor und flüsterte heiser: »Ich brauche einen Wagen. Und eine Waffe.«
»Klingt so«, sagte Serge und seufzte, »als hätte ich deine Probleme lieber doch nicht.«
Serge stand auf und verschwand. Nach einigen Minuten kam er zurück, legte zwei große Alukoffer auf den kniehohen Glastisch vor dem Sofa und ließ die Verschlüsse mit routinierten Griffen aufschnappen. Marlon wischte sich mit der Hand über den Mund und flüsterte leise: »Wow!«
»Okay«, sagte Serge, »es kommt darauf an, wofür du sie brauchst, was du vorhast und was dir persönlich liegt. Das hier ist eine Desert Eagle.« Er nahm die riesige Waffe aus dem Schaumstoffpolster, ließ den Schlitten zurückschnellen und drückte ihn mit dem Daumen wieder nach vorne. » 357 er-Kaliber. Damit kannst du durch einen Motorblock schießen. Aber du wirst sie kaum in der Jackentasche mitnehmen können.« Er legte die Waffe zurück und griff nach einer weiteren. »Die hier ist etwas anderes. Ein Revolver.« Serge drückte die Trommel aus der Waffe, ließ sie rotieren und mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk wieder einschnappen. »Smith & Wesson. Eine kurze . 38 er. Der Nachteil bei Revolvern ist, dass sie nur sechs Schuss haben, und du musst ständig mehrere Ladestreifen mit dir rumschleppen. Lass mich sehen …«
Sein Zeigefinger schwebte über weiteren Waffen, wedelte ablehnend über zwei Maschinenpistolen und fand schließlich sein Ziel. Serge nahm eine matte Pistole aus dem Koffer, unter deren Mündung eine Mini-Taschenlampe angebracht war und deren untere Hälfte aus Kunststoff zu bestehen schien. Mit einem Knopfdruck ließ er das Magazin herausgleiten. Die Patronen darin mussten den Durchmesser eines kleinen Fingers haben. »Eine Glock 20 , Kaliber 10 Millimeter, 15 Schuss, und die Munition gilt als eines der besten und effektivsten Selbstverteidigungskaliber. Trotz des gewaltigen Durchschlags sehr dezent im Rückstoß und absolut anfängerfreundlich in der Bedienung. Mit der Zehner ist es egal, wo du den Mann erwischst. Es haut ihn um.«
Serge reichte Marlon die Waffe. Sie wog etwa so viel wie eine Flasche Sprudel und schmiegte sich in seine Hand. Sie saß wie angegossen. Sie war wie für ihn gemacht, kompakt, und ihr Gewicht war wie in Stahl gegossenes Vertrauen.
Marlon betrachtete die Glock. »Ist sie sicher, oder ist das eine heiße Waffe?«
»Mein Lieber«, sagte Serge väterlich lächelnd und hob beschwichtigend die Hände. »Du bist hier bei Freunden.«
Marlon stand auf, steckte sich die Pistole in den Gürtel und ließ sie unter seinem Polohemd verschwinden.
»Gut, Serge, was bekommst du …«
»Marlon.« Serge stand auf und ging zu ihm hin. Er legte die Hand um Marlons Schultern und drückte ihn an sich. »
Darjonomu konju w zuby ne smotrjat,
sagt man in meiner Heimat. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Und wenn ich dich brauche, weiß ich, wo ich dich finde, okay?«
Marlon nickte.
»Ist alles in Ordnung?«
»Nein. Aber ich kriege das wieder hin.«
»Hm.« Serge sah Marlon durchdringend an. Dann schüttelte er den Kopf und winkte ab. »Ach, was hilft es, du bist wie mein kleiner Bruder – störrisch und unbelehrbar. Jurij ist ein Hammel, er treibt mich zur Verzweiflung. Der Idiot will auswandern. Mit seiner ganzen Familie. Nach Südamerika.« Serge schnaubte. »Er ist hier nicht glücklich, sagt er, obwohl er mit seinen Kindern und seiner dünnen Frau von morgens bis abends nichts anderes tut als beten. Ich sage ihm: Jurij, wie kannst du nicht glücklich sein? Weißt du nicht mehr, wie es war in Nowosibirsk, als wir
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