Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
noch Jungen waren? Aber er schüttelt den Kopf und will sich hunderttausend Euro von mir borgen.« Serge schlug sich mit der Hand vor den Kopf. »Und ich Hornochse gebe sie ihm. Aber er ist mein Bruder. Wenn er sagt, er ist in Paraguay glücklich, dann bekommt er, was er zum Glücklichsein braucht – und Schluss.«
»Paraguay?«, fragte Marlon und legte den Kopf schief.
»Er ist ja bei den Mennoniten, weißt du. Sie haben in Paraguay einen eigenen Staat bauen dürfen. Eine ganze Stadt mit eigenen Gesetzen. Da will er hin, damit meine Nichten keine Cola-Werbung mehr ansehen müssen. Er will ja nicht mal, dass ich ihnen eine Barbie zum Geburtstag schenke, und besuchen darf ich sie auch nicht. Wegen meines unchristlichen Lebenswandels, sagt er. Pah. Aber mein Geld ist ihm nicht zu schade.«
»Paraguay?«, fragte Marlon erneut. Es fühlte sich an, als sei bei der Erwähnung des Wortes ein ganzes Relais an Schaltern umgelegt worden.
»Frag mich nicht. Die werden da alle über den Tisch gezogen. Mit hunderttausend Euro Startkapital kann er sich angeblich da ansiedeln in der neuen Stadt und bekommt dafür eine Baracke zugeteilt. Er hat mir die Broschüren gezeigt, und Marlon – ich weiß, wenn etwas stinkt, noch bevor ich es rieche. Aber was soll ich sagen: Da drüben gibt es viele solcher Siedlungen. Und in die neue ziehen Tausende ein. Stell dir das vor: Tausende.«
»Weißt du noch, wie die Stadt heißt?«
»Glattfeld oder so. Glücksburg vielleicht?«
Marlon rieb sich nachdenklich über das Gesicht.
Er lebt bei meinen Freunden, hatte Roth gesagt. In Glück… Und wie hieß diese Import/Export-Kanzlei in Manhattan?
»Na ja, wie auch immer«, sagte Serge, kratzte sich den Nacken und reichte Marlon beide Hände. »Marlon – ich habe noch etwas zu tun …«
»Kein Thema, Serge. Und danke.«
»Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Oder auch, wenn du mich nicht brauchst. Und vergiss nicht, mein Junge: Nur zum Jäger kommt das Wild gelaufen.« Serge schob ihm einen Autoschlüssel in die Hemdtasche. »Hier, das andere, worum du mich gebeten hast. Es ist kein schöner Wagen, aber du wirst damit nicht auffallen.« Er tätschelte Marlons Wange, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und murmelte: »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.«
Als Marlon zum Wagen ging, spürte er den sanften Druck der Glock an seinem Steißbein. Glücksburg? Glattfeld? Glücksberg & Sons? Mental Sana? Meridian Health? Purpuradragon.com? Und was hatte Roth noch genau gesagt? Die Begriffe wirbelten in seinem Kopf. Wir werden sehen, dachte er. Wir werden sehen.
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34 .
S chneider seufzte zufrieden, hörte hinter sich Geschirr klappern und streckte sich im Schatten der Sonnenschirme in dem Korbsessel des Kafenions aus. In seinem Gott sei Dank klimatisierten Hotelzimmer hatte er gut geschlafen. Lediglich das griechische Frühstück war etwas übersichtlich gewesen. Und hier saß er nun in einem prächtigen Hafen vor einem frisch gezapften Bier, zählte die am Glas herabrinnenden Kondenswasserperlen und wartete darauf, bis endlich der Papierkram erledigt war, womit die griechischen Kollegen sich bereits den ganzen Vormittag Zeit ließen.
Nur mit Ach und Krach war es ihm gelungen, gestern noch einen Flug nach Samos zu organisieren. Der ruppige und tiefe Landeanflug mit einer weitgezogenen Steilkurve durch einen Talkessel hatte seinen Puls bereits zum Rasen gebracht, und als er aus dem Fenster beim ersten Überflug die kurze Landebahn gesehen hatte, die ihm nicht wesentlich länger als das Deck eines Flugzeugträgers erschien, war ihm ein leises »um Gottes willen« über seine Lippen gekommen. Nach der Landung war er in der Abendsonne auf wackeligen Füßen die Gangway herabgestiegen. Die Hitze hatte ihn zunächst fast umgehauen, und er war froh gewesen, endlich im klimatisierten Terminal zu stehen.
Am Rande des Förderbands hatte er mit einer Pall Mall im Mundwinkel so lange gewartet, bis die Touristen die Schlacht um ihre Gepäckstücke geschlagen hatten, sich dann seine Tasche geschultert und das kleine Terminal durch die Zollschleuse verlassen. In dem Gewühl von Rucksackreisenden, sich in den Armen liegenden griechischen Familien und Pulks von Pauschaltouristen, die sich mit ihren Gepäckwagen um Reiseleiter scharten, entdeckte er schließlich vor einem Schalter einen freundlich lächelnden Mann, der ein Pappschild hochhielt, auf dem »Herr Schneider« stand. Die halblangen, tiefschwarzen Haare wurden von einer nach oben
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