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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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machen?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich. »Das ist mir egal.«
    Hätte ich ihm eine Hutnadel in die Schädeldecke getrieben, er wäre wohl genauso heftig zusammengezuckt.
    »Es gibt keinen Sonnenuntergang, in den wir reiten können, Alonzo. Die Schule der Nacht tritt nicht wieder zusammen.«
    Er nickte, zweimal. Sein Kopf sank herab. Dann langte er in seine Manteltasche und zog ein zusammengerolltes Blatt Papier heraus.
    »Was ist das?« fragte ich.
    »Harriots Karte, was sonst?«
    »Nicht das Original.«
    »Selbstverständlich das Original.«
    Meine Finger fieberten ihr entgegen, hielten kurz davor inne.
    »Sei nicht dumm, Henry. Styles nützt sie nichts mehr. Wenn jemand sie sicher aufbewahren soll, kannst genauso gut du das machen.«
    Und mit einem bizarren Kichern fügte Alonzo hinzu:
    »Ich würde sie bloß verlieren.«
    Zwei Regungen kämpften in mir, als ich das Blatt in die Hände nahm. Die eine war, ihm für die Geste zu danken. Die andere war, das Ding auf der Stelle zu zerreißen. Und da keine der beiden die Oberhand gewann, stand ich bloß da und starrte blöde auf das Blatt in meiner Hand, den Grund für all den Ärger.
    »Du willst doch dein Flugzeug erreichen«, sagte Alonzo.
    Ich nickte kurz. Setzte zum Sprechen an.
    »Auf Wiedersehen, Henry.«
    Seine Worte klangen seltsam. Es war ja schon das zweite Lebewohl, das ich an diesem Tag zu hören bekam.
    Und als ich auf der Kew Bridge nach Norden ging, fiel mir ein, dass England selbst mir Lebewohl sagte. Thomas Harriot und Margaret Crookenshanks, Walter Ralegh und Henry Percy … alle diese Gestalten aus der Vergangenheit segelten davon, um einem anderen im Kopf herumzugeistern.
    Ich erschauerte im Wind und zog meinen Mantel fester um mich. Die Anstrengung der letzten vierundzwanzig Stunden machte sich jetzt bemerkbar, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als in einem warmen Bett zu liegen. Meinem eigenen Bett, so jämmerlich das klingen mag. Es stand mir in seiner ganzen Ungemachtheit deutlich vor Augen.
    Und deshalb war ich nicht vorbereitet auf den Anblick, der sich mir am Nordende der Brücke bot: Agent Mooney und Agent Milberg.
    Sie trugen dieselben Maßanzüge wie am Flughafen in Heathrow, blickten aber viel unfreundlicher drein. Und kamen mit unbeugsamem Willen auf mich zugeschritten.
    Da stand ich, sah sie kommen, und jeglicher Widerspruchsgeist in mir war wie weggeblasen. Sie hätten mich mit einem Ruck hochheben und forttragen können, und ich hätte nicht einmal Piep gemacht.
    Aber das brauchte ich auch nicht. Die beiden fegten an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und marschierten im selben unversöhnlichen Schritt weiter. Und da fiel mir ein, was Agent Mooney mir bei unserer ersten Begegnung hatte vermitteln wollen: Sie haben gar nichts damit zu tun , hatte er gesagt.
    Von Anfang an hatten sie Alonzo im Visier. Und diesmal entkam er ihnen nicht. Den Hochseilakt, den er schon so viele Jahre vollführte … Kredit auf Kredit gehäuft … Gläubiger gegen Gläubiger ausgespielt … das alles brach jetzt in sich zusammen.
    Und die Vorstellung, dass Alonzo unter diesem Trümmerberg begraben lag, genügte, um mich schließlich aufzuwecken. Ich fuhr herum. Ein Warnruf erhob sich in mir und teilte mir die Lippen …
    Nur war niemand da, den ich warnen konnte. Alonzo war weg.
    Soll heißen: nicht mehr da, wo ich ihn verlassen hatte. Erst als
ich meine Blickrichtung änderte, fand ich den großen, kräftigen Mann wieder, der sich, trotz Trenchcoat überraschend wendig, am Brückengeländer festklammerte. Er hatte auch keine Sekunde zu verlieren.
    Schon als ich zu ihm sprintete, wusste ich, dass es zu spät war. Er sprang ohne ein Wort, ohne ein Zeichen, ohne einen Blick zurück. Als ich an der Stelle ankam, war er bereits im Fluss verschwunden.
     
    Für seinen zweiten Tod hatte Alonzo Wax jede Menge Augenzeugen: eine Mutter, die ihre kleine Tochter im Kinderwagen schob, einen anglikanischen Priester, der kurz stehenblieb und an seinem iPod hantierte, zwei Mädchen im Teenageralter, kahlrasiert, auf Skateboards, und einen alten Herrn mit Ascotkrawatte, der seinen Knotenstock hinter sich herzog wie eine Hundeleine.
    Ich hörte einen Schrei, gefolgt von zwei Rufen. Sah Fremde, die zur Brüstung rannten und mit philanthropischem Eifer hinabspähten, als könnten sie Alonzo so wieder an die Oberfläche locken.
    Ich sah Agent Mooney und Agent Milberg den Hauch eines Moments zögern und dann weitergehen.
    Das alles war jetzt

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