Algebra der Nacht
sind.«
Alonzo ließ sich auf die Chintzcouch fallen und machte einen weiteren Knoten in seinen Kimonogürtel.
»Es macht nichts, wenn Styles weiß, wo du bist. Du kannst immer behaupten, du seiest hier auf Geschäftsreise, oder etwa nicht?
Und ich bin, seines Wissens, in die Chesapeake Bay eingegangen. Woher sollte er etwas anderes erfahren haben? Ihr zwei habt nichts verraten. Amory auch nicht …«
Und da machte es in Alonzos Hirn klick.
»Wo. Zum. Teufel. Ist. Amory.«
»Ist das nicht seine?«
Clarissa zeigte auf eine Stelle gleich links neben der Couch. Dort lag, achtlos auf den Boden geworfen wie eine alte Zeitschrift, eine Brille. Modell Pilot, übergroße, dicke Gläser, mit Staub und Pollen gesprenkelt. Ein Bügel hing nur noch halb am Rahmen.
»Da ist er wohl draufgetreten«, sagte Alonzo. »Der Tollpatsch.«
»Kann Amory ohne die sehen?«, fragte Clarissa.
»Kein Stück.«
Ich hob die Brille vom Boden auf und wog sie in meiner Hand. Man konnte sich Amory ebenso wenig ohne Brille wie ohne Haut vorstellen.
»Alonzo«, sagte ich. »Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Ich weiß nicht, so gegen sieben? Wir haben Cocktails getrunken und überbackene Baguettes gegessen … Ich musste etwas lesen. Amory ist irgendwann einfach gegangen. Er müsse etwas erledigen.«
»Und er hat nicht gesagt, was?«
»Nein.«
»Vielleicht hat er ja einen Zettel hingelegt«, sagte Clarissa.
Aber bei kurzer Inspektion des Obergeschosses fanden wir nur Speisekarten von koreanischen Take-Out-Läden und Kassenbons, einen Berg von Kreditkarten-Werbebriefen, fast bis zur Unkenntlichkeit bekritzelt, den Umschlag einer älteren Ausgabe von Greenblatts Verhandlungen mit Shakespeare (ohne das zugehörige Buch) und, die einzige Überraschung, eine Werbebroschüre für Anguilla: zwei Strandschirme auf leerem weißem Sand.
»Das Dokument«, sagte ich. »Der Ralegh-Brief, wo ist der?«
Alonzos Augen kamen für mehrere Sekunden absolut zur Ruhe. Dann kniete er sich hin und klopfte so lange auf ein schimmeliges Stück der Holzverkleidung, bis es sich von der Wand löste. Er zog den FedEx-Umschlag hervor und schaute hinein.
»Gott sei Dank«, schnaufte er.
»Ja, nur dass Amory weiter verschwunden bleibt«, sagte ich. »Was ist mit seinen Freunden? Gibt es jemanden, dem er einen Besuch abgestattet haben könnte?«
»Ja, Mrs. Poole. Die ist älter als Gott. Lebt in Whalebone, ein paar Meilen die Straße runter. Züchtet Chinchillas. Amory hält sie seit Jahren mit May-Sarton-Erstausgaben auf Trab und wartet, dass sie …« Er hielt kurz inne. »Er erzieht sie.«
»Vielleicht ist Amory ja zu ihr gefahren?«
»Nein, sie schickt immer einen Wagen.«
»Irgendwelche anderen Freunde?«
»Mann, weiß ich doch nicht. Wie soll man bei der Kälte überlegen?«
Ich war derjenige, der sich in Bewegung setzte, um das Fenster zum Meer hinaus zu schließen. Aber es war Clarissa, die an meinem Arm vorbeispähte und sah, was darunter lag.
»Großer Gott.«
Ich sah es als Zweiter. Die Normalität, die über diesem surrealen Anblick lag, war irritierend. Amory Swales Hof war ein Friedhof für Kippen, Flaschen, Dosen und Seile. Eine aus dem Sand ragende Hand … war wie ein weiteres Objet trouvé.
Hinter mir ertönte das matschige Low-Fi-Geräusch von Alonzos Stimme.
»Henry. Da hinten stehen zwei Schaufeln.«
27
S chaufelweise flog der lockere Sand links und rechts zur Seite. Auf die Hand folgte ein Arm, dürr und bleich. Dann kam eine Schulter zum Vorschein, ein Hals. Und zuletzt das Gesicht, mit Sand überzogen, merkwürdig jung ohne die Brille.
Und wir waren die einzigen Augenzeugen. Denn wir standen in einer tiefen Sandkuhle, nach allen Seiten durch Dünen, Gestrüpp und hohes Meergras abgeschirmt – und durch dieses traurige, traurige Haus, das künftig noch trostloser sein würde, als ich es für möglich gehalten hatte. Sogar jetzt, am hellichten Tag, hätten hundert Leute an uns vorbeigehen können – über ein Dutzend hatten es meiner Schätzung nach in den letzten zwanzig Minuten schon getan –, ohne zu merken, was sich hier abgespielt hatte.
Ich erhob mich langsam. Klopfte mir den Sand von den Händen.
»Was machst du?«, blaffte Alonzo.
»Die 911 anrufen.«
»Und was willst du denen sagen?«
»Ich konnte den Text nicht vorher proben, weißt du. Ungefähr so: Es geht um diesen Mann da. Der hat gelebt und lebt jetzt nicht mehr.«
»Weshalb wir für ihn nichts mehr tun können.«
Ich bekam eine
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