Alias XX
Zweitens: Für den unwahrscheinlichen Fall, dass er selbst verhindert sei, möge sie Thomas Wall ausfindig machen und ihn darauf hinweisen, wo die Mikrofotografie mit den Beweisen zu finden war. Die Straßen des Shepherd Market erschienen Sondegger wenig erfolgversprechend. Das Rowansea Royal Hospital würde ebenso wie Burnham Chase zu viel Zeit kosten. Also in den Nachtclub. Wenn er Wall dort nicht finden würde, müsste er sich nach einem Druckmittel umsehen – Earls Frau vielleicht. Er musste Thomas Wall finden und ihm zeigen, wo die zweite Mikrofotografie steckte. Wall würde in die Botschaft zurückkehren, und diesmal würden sie die Nachricht nicht mehr ignorieren können. Sie wären gezwungen zu handeln.
»Guten Morgen, guten Morgen.« Mr. Uphill hastete zum Hutständer. »Ein Tröpfchen Tee, wär doch nett? Ich muss sagen, Mrs. Wall, Sie sehen fantastisch aus …« Er blieb kurz stehen, während er die Tür zu seinem Büro öffnete, und Harriet musste lächeln. Sie sah schrecklich aus. »Ganz wunderbar. Muss schon sagen, der Schlaf hat Ihnen gut getan.«
Harriet pflichtete ihm bei und schob das Blatt, das sie soeben fertiggestellt hatte, in die Akte – ein weiterer Fall, den sie gemäß den peniblen ALBANS-Vorgaben bearbeitet hatte. Eine weitere Agentin, deren Leben durch die gemeldete Sicherheitslücke auf dem Spiel stand.
Sie machte Uphill seinen Tee. Sie hatte mehrere Behörden angerufen und die Nachricht hinterlassen, dass sie einen Mr. Highcastle zu sprechen wünsche und sie keine andere Möglichkeit sehe, ihn zu erreichen. Mehr war im Augenblick nicht zu tun, außer Tee zu servieren, einen Tropfen Milch hinzuzugeben. Die täglichen Routinetätigkeiten – der Tee, ihr Garten – und das Wenige an Trost, das sie daraus zog, halfen ihr weiterzumachen. Im Gegensatz zu Tom, der ihr kaum Trost spendete. Sie hatte sich daran gewöhnt, in ihm einen gebrochenen Earl zu sehen, einen schwachen oder zweitklassigen Earl. Jetzt, nachdem sie ihn wiederhergestellt erlebt hatte, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich darin getäuscht hatte. Wenn Earl ein Löwe war, dann war Tom ein Panther, dunkel und unabhängig und geschmeidig. Earl war der Herzkönig, ja, aber Tom war der Pikbube. Er war … Klappernd setzte sie die Teekanne auf das chinesische Tablett. Was zum Teufel ging ihr da durch den Kopf? Sie konnte es sich nicht leisten, sich ablenken zu lassen, schon gar nicht jetzt – zumindest war es immer noch besser, als an ihren Vater zu denken.
Rugg und Renard, so hießen laut Tom die Männer, die ihn in diesem abscheulichen Liebesnest über dem Waterfall an den Sessel gebunden hatten. Der Plaidmantel, den Renard zurückgelassen hatte, lag nun diskret zusammengelegt in der untersten Schublade ihres Schreibtisches. Sie kannte sie. Einer der beiden Männer – die Bauarbeiter, die »Ruineure« –, denen sie auf dem Weg zum Haus ihres Vaters begegnet war, hatte genau diesen Mantel getragen. Sein Begleiter war ein übergroßes Kraftpaket gewesen, auf den exakt Ruggs Beschreibung passte. Und Rugg und Renard waren als Anhänger der BUF bekannt. Genau wie ihr Vater. Bei dem Gedanken an den Inhalt der Schublade wurde ihr regelrecht schlecht. Also wollte sie sich darüber keine Gedanken machen, nicht solange sie nicht wusste, wie sie in dieser Sache vorgehen sollte.
Sie betrat mit dem Tablett Uphills Büro. »Hab soeben einen sehr seltsamen Anruf erhalten«, sagte er. »Ein Gentleman unten bittet Sie in einer äußerst dringenden Angelegenheit zu sprechen.«
»ALBANS?«
Verstimmt inspizierte er seinen Tee. »Keine Ahnung.«
Sie sammelte sich und ging nach unten. Im Eckzimmer kam ein stämmiger, kantiger Mann mit grauem Haar und einer schreienden Krawatte schnellen Schritts auf sie zu.
»Mrs. Wall«, begrüßte er sie und reichte ihr die Hand.
»Mr. Highcastle. Tom hat Sie gut beschrieben.«
Er grunzte. »Muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Sie nahm Platz und strich sich den Rock glatt. »Das wollte ich auch. Sie haben gehört, dass ich nach Ihnen gefragt habe?«
»Wollte Sie sowieso sprechen. Wegen Ihres Mannes.«
»Da sollten Sie lieber in der amerikanischen Botschaft nachfragen.«
»Hab ich schon. War ein ziemlich frostiger Empfang.«
»Ich weiß wenig über Earls Arbeit, aber natürlich erzähle ich Ihnen, was ich kann.«
Erneut grunzte Highcastle, dann erkundigte er sich, wo Earl sich so rumtrieb, fragte nach seinen Freunden, seinem Verhalten in letzter Zeit und seinem gegenwärtigen
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