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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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der falschen Seite in diesen blutigen Krieg eintritt, bis ihn jemand in seinem Tun aufhält. Es scheint, Herr Sondegger verrät sein Vaterland nicht, sondern versucht es zu schützen.«
    »Ich bedaure den Mann, der sich mit dir die Zelle teilen wird.«
    Ungerührt tat er die Drohung mit einer Handbewegung ab.
    »Du willst gegen deinen eigenen Vater aussagen? Da kenne ich dich besser. Ist das Paket hier? … Nein? Dann werde ich dich nicht weiter aufhalten.« Er sah auf seine Uhr. »Bin etwas spät dran für eine Verabredung, die sich hoffentlich als sehr erhellend herausstellen wird.«
    »Wenn du im Gefängnis bist, werde ich Burnham Chase schließen. Ich werde die Gemälde an den Wänden versteigern. Nichts wird von all dem bleiben, was dir so lieb ist.«
    »Und die Gärten, Harriet? Wirst du auch die Felder niederbrennen und Salz auf die Erde streuen?«
    »Ich werde tun, was nötig ist.«
    »Keiner von uns kann aus seiner Haut.« Er öffnete die Tür und ging in die graue Abenddämmerung hinaus.
     

32
 
5. Dezember 1941, Abend
    Die Morgue lag zwei Straßen vom Bezirkskrankenhaus entfernt im Gebäude einer ehemaligen öffentlichen Badeanstalt. Im Eingangsbereich wies ein Mosaikpfeil nach links, darüber hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift AUSKUNFT. Tom und Audrey folgten dem Pfeil in das grün-blaue Licht der Schwimmhalle mit ihrem leeren Becken. Sie gingen an einer Reihe traurig durchhängender Feldbetten vorbei, ihre Schritte hallten von den schimmelüberzogenen Fliesen wider.
    In einem kleinen Empfangszimmer fanden sie eine Frau, die unter einem reglosen Deckenventilator an einem überfüllten Schreibtisch saß. Sie erklärten ihr den Zweck des Besuchs, und sie ließ sie allein, um den Arzt zu holen. Tom legte seinen Hut auf eine Schreibtischecke und knetete sich den rechten Unterarm. Die Schmerzen hatten zeitweilig nachgelassen, meldeten sich jetzt aber verstärkt zurück. Er drehte sich zu Audrey um, weil er sie lächeln sehen wollte. Sie hatte die Hände verschränkt, ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
    »Sie sollten hier warten«, sagte er.
    »Ich komme mit.« Im Flur knallte eine Tür. Sie fuhr herum.
    »Bleiben Sie hier«, sagte er. »Wird nicht lange dauern.«
    Sie schüttelte den Kopf. Ein Mann trat ein. Er hatte glatt zurückgekämmtes Haar und ein Muttermal unter dem linken Auge, das wie ein Blutstropfen aussah.
    »Ich bin Dr. Masaccio«, sagte er. »Kein Coroner, aber derjenige hier, der dem am nächsten kommt.«
    »Für unsere Zwecke völlig ausreichend«, sagte Tom und erzählte ihm, was er von ihm wollte.
    »Ein Mann Mitte dreißig, im Kanal?«, sagte der Arzt. »Opfer einer Straftat, höchstwahrscheinlich. Durch den Aufenthalt im Wasser wird so manches unkenntlich gemacht …«
    Er führte sie nach unten in den kühlen Kellerraum mit einer Reihe von Aktenschränken und einer Schwingtür. Er sah in seinen Aufzeichnungen nach und fuhr eine Rollbahre heraus. Er sagte, bei dieser armen Seele seien keinerlei Ausweispapiere gefunden worden – nichts, gar nichts –, was nicht überraschen würde, da manchmal die Leiche erst beraubt wurde, bevor man den Behörden Meldung erstattete. Er schlug die Abdeckung nur so weit zurück, dass der Kopf zu sehen war. Die Haut war so weiß wie der Bauch eines Fisches, überzogen von einem Spinnennetz aus Äderchen. Die Augen waren leere Schlitze, das Haar ein steifer Drahtschopf.
    Audrey klammerte sich an Toms Arm. Er schüttelte den Kopf. »Er ist es nicht.«
    »Sie sind sich sicher?«
    Tom sah zum Arzt.
    »Gut, es gibt noch einen zweiten Kandidaten.« Dr. Masaccio zog dem Toten die Plane über den Kopf. »Ich lass ihn rausbringen.«
    Er rollte die Leiche fort und ließ sie in der Kälte und dem Echo der Schwingtür zurück.
    »Wissen Sie, warum ich Venus heiße?«, fragte Audrey.
    »Ich hab da so eine Theorie«, sagte er und versuchte sie zum Lächeln zu bringen.
    Sie lächelte nicht. »Ich war zu Hause während der ersten Luftangriffe.«
    »Das Haus wurde getroffen.«
    »Die Hälfte des Dachs ist weggesprengt worden. Dad wurde darunter begraben, aber er … Ich hab noch nicht mal einen Kratzer abbekommen. Die Gasleitungen waren geplatzt, alles stand in Flammen, überall war Staub. Ich hab ihn rufen hören.« Sie hielt inne. Ihre Stimme hallte in der Stille. »Es hat lange gedauert, bis er tot war.«
    Tom wollte sie umarmen. Er wollte ihr Haar streicheln.
    »Ich bin bei einer Familie einquartiert worden«, sagte sie.
    »Im West End, ich

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