Alias XX
dachte, ich hätte Glück gehabt, aber es hat dann keinen Monat gedauert, bis erneut eine Bombe einschlug. Ich lag in der Badewanne in meinen zehn Zentimetern, und plötzlich wurde die Wanne umgekippt, und ich war darunter wie in einer kleinen Höhle gefangen. Als die Rettungskräfte kamen, hab ich gegen ein Rohr geklopft, und sie haben mich durch einen langen Schacht im Schutt herausgezogen. Das war in der Morgendämmerung. Inch war da. Er gab mir seinen Mantel und sagte, ich sei wie die Venus, die dem Schaum entstieg.« Kurz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Danach war ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich hab’s im Ambulance Corps nicht mehr ausgehalten, konnte die Toten und Verschütteten und Sterbenden nicht mehr ertragen. Sie halten mich für einen Feigling.«
»Ich halte Sie für eine wunderschöne Närrin«, sagte er.
»Warten Sie oben.«
Sie sah auf ihre neuen Schuhe. »Ich will nicht mehr allein sein.«
Das Quietschen der Rollen eilte Dr. Masaccio voraus. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange hab warten lassen«, sagte er. »Also. Die Leiche ist einige Zeit im Wasser gelegen und wurde wahrscheinlich von einem Boot, ähm, gerammt …«
Tom schlug die Plane zurück. Er legte die Hand auf das tote Gesicht. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die durchdringende Kälte der Kühlanlage, die Kälte des leblosen Körpers. Earl war tot.
Masaccios Stimme kam vom anderen Ende eines langen, dunklen Tunnels. »… Brieftasche vermutlich gestohlen. Das ist jetzt vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt?«
»Fahren Sie fort«, sagte Tom.
»Die Dame scheint …«
»Sagen Sie es mir.«
»Das Schlüsselbein ist gebrochen«, sagte Masaccio. »Er weist eine Stichwunde unterhalb des Rippenbogens auf, keine tödliche Verletzung, wahrscheinlich hervorgerufen durch herumfliegende Splitter. Er hat höchstwahrscheinlich Blut verloren und ist dann in den Kanal gefallen. Der Schock durch das kalte Wasser, der Blutverlust …«
»Bringen Sie mich nach Hause«, sagte Audrey. »Tommy, ich will … mir ist kalt. Es ist sehr kalt hier.«
»Wie lang ist das her?«, fragte Tom.
Masaccio zog die Plane über Earls Gesicht. »Schwer zu sagen, im Wasser, zu dieser Jahreszeit. Offizielle Todesursache ist Ertrinken, aber …«
»Es war Mord«, sagte Tom. Er konnte genau vor sich sehen, was an jenem Abend am Kanal hinter Stables & Co. vorgefallen war. »Er wurde ins Wasser gestoßen.«
Tom wusste nicht, welches Spiel Earl hatte spielen wollen, aber er hatte den ersten Mikrofilm im Tristram Shandy versteckt und sich dann mit Sondegger am Regent’s Canal getroffen, nahe der Hyde Road. War es eine Falle gewesen? Aus irgendeinem Grund war es zu einem Kampf zwischen Earl und Sondegger gekommen, bei dem Earl die Oberhand behielt. Er sperrte Sondegger in das kleine Backsteingebäude am Treidelpfad, um ihn dort festzuhalten. Aber Sondegger hatte nicht vor, sich geschlagen zu geben. Eingesperrt, verletzt, lockte er Earl mit seiner Honigstimme ans rostige Gitter. Bat um Feuer für seine Zigarre, und Earl konnte nicht widerstehen. Er lehnte sich ans Gitter und entzündete das Feuerzeug. Und Sondegger, der sich nach dem Schlag gegen den Kopf kaum noch aufrecht halten konnte, rammte ihm durch das Gitter hindurch die Schusterbank ins Gesicht und stieß ihn in den Kanal. Earl schlitterte das schlammige Ufer hinunter, er war geschwächt durch den Blutverlust und konnte wegen des gebrochenen Schlüsselbeins einen Arm nicht mehr benutzen. Dann versank er in der betäubend kalten Strömung. Ja, Tom konnte alles ganz deutlich vor sich sehen.
»Bitte, gehen wir?«, sagte Audrey.
»Mr. Wall?«, sagte der Arzt.
Earl war tot. Er war tot seit dem Abend, an dem Sondegger aufgegriffen worden war. Warum hatte Sondegger gesungen? Um Earls Schreie, das Aufplatschen im Wasser zu übertönen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zu diesem Zeitpunkt, nachdem Earl tot war, wollte Sondegger, dass er gefunden wurde. Weil es die einzige Möglichkeit war, an Tom zu kommen – und er brauchte einen Amerikaner, dem er den Mikrofilm übergeben konnte. Er hatte nach Earl verlangt, weil er wusste, dass sie ihm Tom bringen würden, weil er wusste, dass sie keine andere Wahl hatten. Sondegger hatte es gewusst, noch bevor Davies-Frank überhaupt im Rowansea aufgetaucht war.
Es war schlimmer als Kreta. Tom war von Sondegger zwangsverpflichtet und für Hitlers Armee rekrutiert worden.
»Tommy, ich will gehen.« Audrey legte ihm die Hand auf den Arm.
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