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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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nun beim Pflanzen der Tulpenzwiebeln ihren Crêpe-de-Chine-Rock.
    Trotzdem, sie brauchte die Zeit, den Geruch und die Gewissheit ihres lächerlich kleinen Gartens. Dieses handtuchgroßen Fleckens, der, größtenteils gepflastert, aus der Anfahrt zum angrenzenden Stallgebäude geschaffen worden war. Deshalb hatte sie sich für dieses Haus entschieden. Hier, in der Nähe des Shepherd Market, war ein schmaler Streifen Erde eine Seltenheit – aber er bewahrte sie davor, den Verstand zu verlieren.
    Sie nahm eine Hand voll dunkler Erde auf. Ihre Hände waren das Beste, was sie hatte. Wohlgeformte Finger, schmale Handgelenke, unlackierte Nägel mit kleinen Halbmonden. Ihre Hände gestatteten ihr nicht, dass sie vergaß. Sie hob die Erde aus. Es war zu spät im Jahr, um noch anderes zu pflanzen als Tulpen oder Vergissmeinnicht. Sie wollte es auch mit Narzissen versuchen. Besser im Boden als in der Tüte – wenn sie im kommenden Frühling nicht austreiben sollten, würden sie im darauffolgenden Frühjahr kommen. Ein harter Anfang, aber sie würden blühen. Manche Dinge wurden wiedergeboren, nachdem sie abstarben. Andere nicht.
    Es war ihr heimliches Ritual. In einer Welt der Geheimnisse gehörte das hier ihr: Sie pflanzte Blumenzwiebeln für die Frauen, die sie in die Nacht hinausschickte. Sie versuchte sich einzureden, wenn sie sich um die Zwiebeln kümmerte, wenn sie sie schützte und hegte, würden ihre Agentinnen lebend zurückkehren. Sie würden nicht durch Verräter, durch Fehler oder unglückliche Umstände gefangengenommen, würden nicht in eine Kellerzelle gebracht werden. Harriet drehte eine anders geformte Zwiebel in der Hand hin und her. Eine Anemonenzwiebel, die zwischen die Narzissen geraten war. Sie würde sie wässern, in einen Topf pflanzen und ins Schlafzimmerfenster stellen. Sie legte sie zur Seite und hielt inne, den Blick auf das Beste gerichtet, was sie hatte: ihre Hände. Sie hielt sie ausgestreckt, die Nägel waren verdreckt, aber nicht eingerissen. Die erste Agentin, mit der sich Harriet angefreundet hatte, hieß mit Decknamen »Governess«. Ein Mädchen aus der Arbeiterschicht, zweiundzwanzig Jahre alt, mit schelmischen grünen Augen und dunklem Bubikopf. Vage erinnerte sie an die amerikanischen Mädchen der »Roaring Twenties«, dazu kamen ihr burschikoses Auftreten und ihr Mut. Aber in Essex im Jahr 1940 bedeutete ihr Bubikopf nur, sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen – und dass dazu auch kein Anlass bestand, dafür sorgte ihr Mut. Ihre Mutter war Französin, weshalb Governess die Sprache perfekt beherrschte. Sie besaß die schnelle Auffassungsgabe einer erfolgreichen Agentin, zeigte Engagement, verstand zu flirten und wusste, wann sie sich aus dem Staub zu machen hatte. Nach der Ausbildung – Waffen, Dokumente, Codes, die Zyankalikapsel – war sie nach Osten geflogen worden. Harriet hatte allein am grasbestandenen Flugfeld der Moon-Squadron-Basis in Tempsford gestanden und der dröhnenden Lysander nachgewunken, als diese im Nachthimmel verschwand.
    Eine Stunde später war Harriet zu Hause gewesen. An ihrem Esstisch hatte sie sich mit dem Papierkram befasst, den sie mit nach Hause nehmen durfte – Papiere, die, versehen mit dem Briefkopf des Inter-Services Research Bureau, auch Arbeiten für eine Bank oder eine Reederei hätten sein können. Aber sie hatte sich nicht konzentrieren können, hatte immer wieder auf die Uhr gesehen: Jetzt hielt Governess’ Pilot nach den Lichtern am Boden Ausschau, dem spiegelverkehrten »L« der Absprungzone. Jetzt wartete er auf die Signallichter, während Governess, ihre schlanken Beine baumelten in der Luke im Flugzeugrumpf, darauf wartete, dass das rote Licht grün wurde. Jetzt fiel sie durch die Luft, jetzt wurde sie nach oben gerissen, nachdem die Aufziehleine ausgelöst wurde. Harriet betete, dass der Fallschirm sich öffnete. Dass der Sprung problemlos vonstatten ging. Ihre Gebete wurden erhört: Governess war sicher über Frankreich abgesprungen.
    Direkt in ein umgedrehtes Agentennetz hinein. Zwei Monate später konnte ein Mann mit dem Decknamen »Aubergine« aus einer Nazi-Zelle fliehen. Harriet las seinen Bericht in Mr. Uphills Büro, hinter verschlossenen Türen. Governess hatte keine Zeit mehr gehabt, die Zyankalikapsel zu schlucken. In einem Zeitraum von zehn Tagen verlor sie ihre zehn Fußnägel, dann ihre Fingernägel. Trotzdem verriet sie nichts, was die Nazis nicht schon wussten. Sie wurde durch einen Schuss in den Nacken

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