Alias XX
getötet. Sie war die erste von Harriets Frauen, die starb. Und nicht die letzte.
Hennessey Gate war ein einstöckiges Bauernhaus außerhalb der Vororte von London, geduckt lag es auf zehn bis fünfzehn Hektar hügeligen Weidelands. An der von Schlaglöchern übersäten Schotteranfahrt standen eine Hand voll
Außengebäude – ein langer, niedriger Kuhstall, ein verfallener Hühnerstall und die Überreste dessen, was vielleicht einst ein Milch- oder Getreideschuppen gewesen war. Das Bauernhaus selbst war ein heruntergekommener, notdürftig zusammengeflickter Bau – alte aschefarbene, vom Regen ausgewaschene Schindeln auf dem Dach, an die Wände waren neue, breite, flüchtig weiß gestrichene Bretter genagelt. Die von Sandsäcken flankierte Eingangstür, früher leuchtend rot, war zu einem blassen Rosa ausgebleicht. Es gab keine Hühner, keine Gänse, keine Hofhunde.
»Schön, wenn man so einen Landsitz hat«, sagte Tom.
»Nicht wahr?«, sagte Davies-Frank. »Unser reizendes, ländliches Versteck.«
»Erinnert mich an Burnham Chase. Nur ist es hier lauschiger.«
»Bin von Chilton noch nie eingeladen worden.«
»Vergießen Sie bittere Tränen, Rupert. Ihnen sind kalte Böden, kaltes Essen und eine eiskalte Gesellschaft entgangen.«
Tom spürte Earl in sich, sein Bruder machte sich in ihm breit wie ein Grippeerreger, ein wirbelndes schwarzes Virus, das seine Worte und seine Gesten bestimmte. Davies-Frank hatte ihn während der Fahrt über Earls Leben beim COI unterrichtet, über die Zwistigkeiten innerhalb der Abteilungen, über das Personal. Tom erfuhr, dass Earl nach Kairo und Lissabon gereist und einem Kricket-Team beigetreten war. Er prägte sich die Namen und Orte ein, war ansonsten jedoch völlig unvorbereitet. Aber er war Earl – er würde alles auf die leichte Schulter nehmen und sich der Last unter dem Beifall aller elegant wieder entledigen. So wie Earl es immer tat.
Siestiegen aus dem Daimler. Gelb und rund stand die Sonne hinter einer dünnen grauen Wolke, wie der Fettfleck auf dem neuen Spielzeug eines Kindes. Halbherzig krächzte eineeinsame Krähe, die Luft roch nach Brachfeldern und Lehm. Im Schatten des Kuhstalls sah Tom zwei Wachen.
»Für die Öffentlichkeit geschlossen?«, fragte er und deutete in ihre Richtung.
»Wie die Kew Gardens während der Luftangriffe«, sagte Davies-Frank. »Geschlossen und streng bewacht, eine Bombe in die Palmhäuser, und es wäre ein Schauer aus Glassplittern niedergegangen – tausend Guillotinemesser, die durch die Luft schneiden. Und trotzdem wäre das weniger gefährlich gewesen als das, was wir in Hennessey haben.« Er drehte sich um, ein Mann trat aus dem Haus. »Ah. Highcastle. Hier ist Mr. Wall.«
»Earl Wall.« Highcastle war klein und gedrungen, mit einem Schädel wie ein Stier und einem kampflustigen Kinn. Er trug einen braunen Anzug, einen braunen Hut und eine gelbe Krawatte.
Mit finsterem Blick streckte er seine Hand aus. »Sie sind gekommen.«
Tom hob entschuldigend seine bandagierte Hand. »Und jetzt habe ich gesehen. Und dann werde ich siegen.«
Highcastle grunzte. »Ich kümmere mich um Wall«, sagte er zu Davies-Frank. »Rufen Sie Yards Spezialabteilung an. Wegen Tipcoe.«
»Um ihnen was zu sagen?«
»Lassen Sie sich was einfallen.«
»Wozu?«
»Damit sie ihn uns überstellen.«
Davies-Frank nickte. »Ich werde mit Illingworth reden …«
»Kommen Sie«, sagte Highcastle zu Tom. Das Haus bestand aus einem Labyrinth kleiner dunkler Räume, vollgestellt mit ehemals farbenfrohen, kitschigen Möbeln. Highcastle sah zur Treppe, sagte: »Er ist oben«, und führte Tom in eine Stube, die in ein Büro umgewandelt worden war. Er schloss die Tür und drückte Tom in einen Sessel.
»Rupert und ich wissen, wer Sie sind. Wir sind die Einzigen.«
»Alle anderen glauben, ich sei Earl?«
»Genau.«
»Weil Sie mir nicht trauen, oder weil Sie den anderen nicht trauen?«
»Ist so beschlossen worden.«
»Nein«, sagte Tom. »Sie haben Angst.«
Highcastle setzte sich eine Drahtgestellbrille auf die Nase, öffnete eine Schublade am Schreibtisch und betrachtete den Inhalt.
»Man riecht es«, sagte Tom. »Sie und Davies-Frank, Sie verströmen beide diesen Gestank.«
Highcastle schloss die Schublade und hob den Kopf. Seine Augen schimmerten fast gelblich. »Hab gehört, Sie waren im Rowansea. Als Patient, nicht als Arzt.«
»Ich bin nicht derjenige, der um Hilfe bittet.«
»Nein?«
»Highcastle, mögen Sie Swing? Benny Goodman? Sie geben
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