Alias XX
Basssaxophon, das einen tiefen, satten Grundton spielte – aber er hatte keine Zeit, sich von den Worten davontragen zu lassen, er brauchte die Daten zum Treffen mit Abendammer, dem Funker. Hol dir die Informationen, hol dir Earl und … Und dann? Seine Müdigkeit, seine Erinnerungen und Sondeggers Opiumstimme machten ihn ganz benommen.
»Sie denken, dass ich Wagner wertschätzen muss, weil ich Nationalsozialist bin?« Ein Funkeln zeigte sich in Sondeggers Augen. »Ich hoffe doch, mein Geschmack zeugt nicht von solcher Engstirnigkeit. Obwohl ich es bedauere, der ersten Aufführung des Ring in Bayreuth nicht habe beiwohnen zu können. Zu spät geboren, um Wagner noch dirigieren zu sehen – im Januar seines Todesjahres. Allerdings habe ich seine Werke in Magdeburg und bei den Festspielen gesehen. Ich bewunderte den Ehrgeiz des armen Siegfried, aber Genie wird leider so selten in direkter Linie vererbt.«
Tom drehte ein Blatt Papier auf dem Tisch zu sich. Es war das Bleistiftporträt eines vier- oder fünfjährigen Mädchens. Eines hübschen Kindes.
»Meine jüngste Tochter – Cosima, sie starb an Blutvergiftung. Siegfried war, wie Sie wissen, Liszts Enkel und Wagners Sohn. Von makellosem Blut. Aber der Bärenhäuter? Zu hart und zu weich zugleich, wie eine Muschel, die unter der Schuhsohle zertreten wird. Sie kennen doch den Bärenhäuter ?«
Tom antwortete nicht, Sondeggers Stimme lullte ihn ein.
»Ich stelle mir vor«, sagte Sondegger, »dass Tristan und Isolde mehr nach Ihrem Geschmack ist, Mr. Wall. Gift wird zum Liebestrank, Seelenangst verwandelt sich in Glückseligkeit – es ist die drittintensivste erotische Oper, die jemals geschrieben wurde.« Mit noch tieferer Stimme begann er zu singen: » Was ist? Isolde? «
»Ich ziehe«, unterbrach Davies-Frank, »ich ziehe Das Liebesverbot vor.«
Tom hatte ganz vergessen, dass Davies-Frank auch noch da war. Mit einem Ruck riss er sich aus seinem schläfrigen Zustand, wie er ihn seit Tagen nicht erlebt hatte. Sondegger fuhr zu Davies-Frank herum. »Verbotene Liebe, Sie als Familienvater? Gehen Sie mit Ihren Kindern in die Oper? Ihren Töchtern? Erzählt die Ältere nicht ihrer kleinen Schwester … ach, ich verstehe. Natürlich. Sie sind Zwillinge. Zehn, elf Jahre alt? Bald werden sie Frauen sein, wie meine Hannelore. Und Ihre Frau – Jane? June? Joan?«
»Also«, sagte Tom. »Wo zum Teufel treffen Sie sich mit Abendammer?«
Sondeggers Lachen ergoss sich in den Raum wie Sahne in eine Flasche. »Sie müssen mich entschuldigen, Mr. Wall. Man gönnt mir hier so wenig Abwechslung. Ich lebe von Rum und Spekulationen.«
»Und dem Klang Ihrer Stimme. Wo ist Abendammer?«
»Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen werde.«
»Kommen wir zum Geschäft – ich geb einen Scheiß auf Ihre Oper.«
»Wir sind schon beim Geschäft.«
Sondegger teilte seinen Papierstapel in zwei Stöße, dann vier, die er präzise auf der Tischplatte ausrichtete. »Es wächst geometrisch.«
»Sie kennen die Vereinbarung. Die Briten wollen erst den Treffpunkt – dann reden wir.«
»Ein intraartikulärer Bruch?« Sondeggers Blick schoss zum Verband. »Wobei haben Sie sich die Hand verletzt, Mr. Wall?«
»Beim Klarinettenspiel. Wie haben Sie sich im Gesicht verletzt?«
»Jemand hat mich hintergangen. Und Ihre Hand entzündete sich nach der Operation? Chirurgen. Sie schneiden einen auf und sehen zu, wie man blutet. Werfen Sie jemals einen Blick darauf, was sie angerichtet haben? Nein? Angst, Mr. Wall, ist hinderlich für die Heilung. Sie dürfen der Angst nicht
erlauben …«
»Sie haben drei Minuten«, sagte Tom. »Sagen Sie es mir, oder zum Teufel damit.«
»Sie werden sich schon mit mir gedulden müssen.« Seine einschmeichelnde Stimme wurde schneidend. »Sie wissen, dass Ihnen gar nichts anderes übrigbleibt.«
»Wollen Sie darauf wetten?« Tom ließ ihn einen Anflug von Earls Sorglosigkeit, seiner eigenen Unberechenbarkeit spüren.
Eine Sekunde lang zögerte Sondegger. Nur eine Sekunde.
»Ich bin ein Mensch, der von vielen Sorgen geplagt wird, Mr. Wall. Ein nervöser, kummervoller, ängstlicher Mensch.«
Seine Stimme blieb felsenfest.
Er schob sich den Bleistift hinter das Ohr. »Darf ich mich von meiner Last befreien?«
Tom sah auf seine Uhr. »Zwei Minuten dreißig.«
»Ich mache mir Sorgen, dass ich während eines Luftangriffs geopfert werde, da die Wachen keinen Schlüssel haben, um meine Kette zu lösen. Ich mache mir Sorgen um das, was in dem Kabinett im Flur
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