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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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selbst?«
    »Wenn Sie es so nennen wollen.«
    »Wie würden Sie es nennen? Steptanz?«
    »Ich nenne es lästig, aber harmlos. Er redet stundenlang, ohne Pause. Erinnert mich sehr an die Odyssee.«
    »Hab James Joyce nie gelesen.«
    »Die andere Odyssee«, sagte Davies-Frank fast entschuldigend. »Odysseus wollte die Sirenen hören, die mit ihrem verführerischen Gesang die Seeleute in den Tod rissen. Sie lagen auf ihren blumengeschmückten Wiesen, umgeben von Leichen. Also verstopfte er seiner Mannschaft die Ohren mit Wachs, damit sie nichts mehr hörten, und segelte an ihnen vorüber. Er war der einzige Mensch, der ihren Gesang hörte und dennoch mit dem Leben davonkam.«
    »Wie hat er es angestellt?«
    »Er hat sich am Mast festbinden lassen. Sollen wir?«
    Davies-Frank öffnete die Tür. Tom trat ein. Der Raum war lang und schmal. An der rechten Seite standen zwei gepolsterte Armsessel und ein Lehnstuhl, dazwischen ein niedriger Kaffeetisch auf einem fadenscheinigen Teppich. Eine nackte Glühbirne hing über dem Tisch, weiter hinten befand sich ein vergittertes Fenster. Hinter den Gitterstäben waren Kiefernlamellen angebracht, die Licht hereinließen, den Blick nach draußen aber verwehrten.
    An der linken Zimmerseite lag auf dem Boden eine Matratze mit einer ordentlich gefalteten Decke. In einer Ecke stand ein Nachttopf, in der anderen ein Eimer Wasser, darüber ein Regalbrett mit einer Keramiktasse. An der Stirnseite waren ein Stuhl und ein einfacher Holztisch am Boden festgeschraubt. Auf dem Tisch lag ein Papierstapel, daneben ein speckig schimmernder Holzteller und ein Becher. Der Mann auf dem Stuhl war etwa Ende fünfzig, untersetzt, mit einem angenehmen, runden Gesicht und zerzaustem blonden Haar. Er starrte an die Decke, hatte die Hände auf dem Bauch verschränkt, zwischen den Fingern hielt er locker einen Stift. Seine Füße ruhten bequem auf der aufgeschossenen Eisenkette, als wäre sie ein Fußschemel. Eine Schelle lag um seinen Fußknöchel, die Kette war mit einem Bolzen an einem Holzbalken befestigt. Er redete. Seine Stimme schwebte in der Luft, ruhig, verführerisch, sämig. Wie die Stimme von Toms Vater, mit der er ihn am Abend vor Weihnachten ins Bett schickte.
    »Mr. Sondegger«, sagte Davies-Frank. Sondegger setzte sich aufrechter hin, und Tom bemerkte die Prellung an seiner Schläfe. »Rupert, meine Frau und ich hatten vier Töchter«, sagte er. In seinen blauen Augen war nichts Auffälliges zu erkennen. »Hab ich das schon mal erwähnt?«
    »Nein«, sagte Davies-Frank.
    »Und keinen einzigen Sohn.«
    Davies-Frank setzte sich in einen der gepolsterten Armsessel. »Wie heißen sie?«
    »Nur eine überlebte die ersten Jahre«, sagte Sondegger.
    »Hannelore.«
    Tom schlenderte auf Sondegger zu und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tisch. Er nahm seine Capstan aus dem Jackett und öffnete mit dem Daumen die Packung. »Zigarette?«
    »Earl Wall, nehme ich an?« Sondegger streckte ihm seine Hand hin. Sie war gerötet und glatt; Tom ignorierte sie.
    »Ich bin Wall.«
    »Endlich sehen wir uns.« Sondegger lehnte mit einer wegwerfenden Handbewegung die angebotene Zigarette ab.
    »Ich rauche nicht. Hab ich das nicht erwähnt?«
    Der erste Schnitzer. Er überspielte ihn mit Earls Sarkasmus.
    »Soll ich in meinem Tagebuch nachsehen?«
    Kurz ruhte Sondeggers Blick auf Toms Gesicht. »Trotzdem, ich danke Ihnen für das Angebot, auch wenn ich mich nicht erkenntlich zeigen kann.« Er deutete auf den Holzbecher.
    »Es sei denn, Sie möchten einen Schluck von dem Zeug, das sie hier Rum nennen.«
    »Ich bin mehr für Bier zu haben.« Tom hob die Packung zum Mund und zog mit den Lippen eine Zigarette heraus.
    »Hab ich das schon mal erwähnt?«
    »Sie ertränken mich mit hochprozentigem Rum, in der Hoffnung, dass ich im betrunkenen Zustand vertrauliche Informationen ausplaudere.« Er stellte den Holzkrug vom Boden auf den Tisch. »Obwohl sie wissen, dass ich Brandy bevorzuge.«
    »Brandy und die Oper.«
    »Die Oper ist Balsam für die Seele, Mr. Wall. Sie ist, wenn Sie mir eine doch etwas rohe Metapher gestatten wollen, Öl im Getriebe des Bewusstseins.«
    »Ich gestatte Ihnen die Metapher – und das Wortspiel.«
    »Das Wortspiel?« Sondeggers Blick schweifte an Tom vorbei, er schmunzelte. »Rohes Öl, Rohöl. Sehr gut, Mr. Wall, obwohl das Wortspiel natürlich die niedrigste Form der rhetorischen Figuren darstellt.«
    Tom steckte die Zigaretten in seine Tasche. Die Stimme des Mannes war wie ein

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