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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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griffen sich ihre Handtasche und marschierten durch die Ruinen zu ihrem Büro, immer auf ihre Dauerwellen achtend, vorbei an ausgebombten Gebäuden und Flugabwehrstellungen, um Diktate aufzunehmen und Tee zu kochen.
    »Sekretärinnen«, sagte Tom.
    »Hm?«, sagte der Fahrer.
    Tom streckte den Arm aus. »Die sieht knackig aus. Könnte Penny Singleton sein.«
    »Hm?«
    »Die Blonde mit dem grünen Hut.«
    »Mmm«, sagte der Fahrer.
    »Was für ein steiler Zahn«, sagte Tom und versuchte sich an die Lieblingssprüche seiner Einheit zu erinnern, damit der Fahrer den Blick nicht von ihr nahm. »Die ist so scharf, dass einem die Hose wegbrennt.«
    Hinter ihnen ertönte eine Hupe. Die Ampel unter ihrer Verdunkelungsabdeckung hatte umgeschaltet.
    »Mit der«, sagte Tom, »wäre man am liebsten auf …«
    Der Fahrer legte den Gang ein.
    »… und davon.« Tom riss am Türgriff und trat auf die Straße.
    »Oha!«, sagte der Fahrer. Tom war verschwunden.
     
    Keiner hatte vom Rapids gehört. Weder die Ladenbesitzer noch die Eisenbahnarbeiter, weder die Frau des Buchhändlers noch der Metzger noch die Polen. Auch nicht die alten Gentlemen mit ihren Zylindern.
    Und auch nicht die Oliver-Twist-Kinder, die in einem überwucherten Garten spielten, wie Tom zunächst gedacht hatte. Es stellte sich als eine Brachfläche heraus, auf der der Schutt der ausgebombten Gebäude abgeräumt worden war – fünf Häuser, von denen nichts mehr stand bis auf abbröckelnde Grundmauern und mit Wasser vollgelaufene Keller. Ein Stück Ländlichkeit inmitten winziger gelber Ziegelgebäude, das von der heranrückenden Natur zurückerobert wurde: wuchernde Brombeersträucher, Brennnessel und Pfennigkraut, das sich die Mauerreste hochrankte.
    »Rapids?«, sagte ein Kind mit riesigen Augen auf Toms Frage. »Keine Ahnung.«
    »Na«, sagte ein dreckverschmierter Junge. »Schenkst du uns was?«
    »Was schenken?«, sagte Tom.
    Er kam nicht weiter. Er steckte schon lange fest. Er würde das Rapids nie finden – wenn es denn überhaupt existierte. Es war kein Nachtclub, kein Pub, kein Stadtteil und auch nicht der Name irgendeiner Veranstaltung. Er würde dorthin zurückkehren müssen, wo sein Bruder sich zuletzt aufgehalten hatte. Irgendetwas musste Earl hinterlassen haben. Der erste Schritt war klar.
     

10
 
1. Dezember 1941, Abend
    Harriet hob Löcher aus, die doppelt so groß waren wie die Tulpenzwiebeln. Sie kramte in ihren Tüten und wählte die Sorten, die sie haben wollte. »Flair« für jene, die bald aufbrechen sollten, »Electra« für die im Feld. »Peach Blossom« für die Vermissten und »Brilliant Star« für die Toten.
    Sie klopfte den Torf fest. Sie würde es nicht zulassen, dass sie weinte, noch nicht einmal hier, wo sie mit ihren Hecken und ihrem Christdorn allein war. In Frankreich, Norwegen, in Polen und Deutschland und Belgien durften sich ihre Frauen auch keine Nachlässigkeiten erlauben. Wenn sie sich verrieten, weil sie ein Wort falsch aussprachen oder eine Träne zur Unzeit vergossen, würden sie sterben. Dass sie – um ihrer Frauen willen, ihrer selbst willen – nicht weinen wollte, war ebenso absurd wie das Pflanzen der Tulpenzwiebeln. Aber das war alles, was ihr blieb, nachdem die Lizzie über die grasbewachsene Startbahn gerollt und sich in die Luft erhoben hatte. Sie zerbröselte einen Erdklumpen. Es war zu spät für die Tulpen, es war der erste Dezember, aber das Leben wusste sich durchzusetzen. Das Leben würde überdauern. Dieses Frühjahr oder das darauffolgende würden sich grüne Triebe durch die schwere Erde schieben.
    »Fertig«, sagte sie. Alpenveilchen, Hyazinthen, die bescheidenen Schneeglöckchen – zusammen mit dem Goldlack und den Schlüsselblumen würden sie eine wogende, kunterbunte, lebendige Blütenpracht abgeben. Harriet fehlte die Geduld für einen geordneten Garten. Sie stand auf und machte sich daran, die Beeren des Christdorns zu ernten, bevor es die Drosseln und Rotkehlchen für sie taten. Sie wischte sich die Finger am Rock ab.
    Offiziell war sie Verbindungsoffizier in der WIT-Abteilung der Special Operation Executive – im SOE-Jargon war sie damit die Sekretärin des Chefs, Mr. Uphill, eines netten, liebenswerten und nicht sehr hellen Mannes. Zum Glück allerdings fühlte er sich innerhalb seiner engen Grenzen wohl. Er war nicht im geringsten gekränkt, wenn sich Harriet mehr und mehr in seinen Aufgabenbereich einmischte. Solange sie seinen Terminkalender in Ordnung hielt und Tee servierte, war

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