Alias XX
waren zwei. Nun, immerhin klug genug, wirklichen Schaden zu vermeiden. Wer war es?«
»Straßenräuber.«
»Natürlich.« Er senkte die Stimme. »Haben sie bekommen, was sie wollten?«
»Sie haben zehn Pfund bekommen.«
Er kicherte nahezu lautlos, dann sagte er, so leise, dass Davies-Frank es nicht hören konnte: »Ihr Bruder hat das Rapids verlassen.«
»Wo ist er?«, fragte Tom ebenso leise.
»Er wartet hinter den Kulissen.«
»Vielleicht sollte ich es aus Ihnen herausprügeln.«
»Das können Sie versuchen.« Sondegger knöpfte sich das Hemd auf. Über seinen Brustkorb zog sich ein flacher weißer Verband. »Stromstöße. Ein modifiziertes Funkgerät, welch hanebüchener Versuch an dramatischer Ironie.«
»Aber Sie sind ein harter Bursche, Sie reden nicht.«
»Ich habe ausführlich geredet – aber meine Integrität gewahrt.«
»Was zum Teufel reden Sie da? Wo ist er?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob Earl Ihr vorrangigstes Problem ist. Ihre Hand wurde im Kampfeinsatz verletzt? Es sind nicht nur die Operationen, die Ihnen Schmerzen bereiten, Thomas. Ist es die Liebe? Erinnerungen? Schlaflose Nächte und … Verrat? Ja, immer der Verrat.«
Ein ungutes Gefühl kroch Tom über den Rücken. »Er hat das Rapids verlassen.«
»Ich weiß nicht, wo Earl ist. Aber ich weiß, wie er zu finden ist.«
Tom konnte sich nicht konzentrieren. Erschöpfung war wie Trunkenheit nach miserablem Alkohol, elendem Bourbon, der nach verbranntem Zucker und Jod schmeckte. Audrey Pritchetts Stimme: Delirium tremens? Harriets Lächeln, als sie glaubte, er sei Earl, und Sondeggers erstickende Gegenwart.
»Wie viel?«, fragte Tom. »Wie hoch ist Ihr Preis?«
»Geben Sie mir Ihre Hand.«
Tom hielt ihm die Linke hin.
»Die andere. Sie werden Ihren Bruder ohne mich nicht finden. Geben Sie mir Ihre Hand. Sie werden es nicht schaffen, Thomas, wenn ich Ihnen nicht helfe. Sie werden nicht schlafen.« Im Raum hing der Brandgeruch und der goldschimmernde Klang von Sondeggers Stimme. Heiß strömte sein Atem gegen Toms Ohr. »Sie werden nicht schlafen, bis Sie ihn gefunden haben. Sie werden nicht heilen. Sie werden nie bekommen, was Sie verloren haben – wenn Sie mir nicht Ihre Hand geben.«
Tom gab ihm seine Hand.
Sondegger breitete sie zwischen seinen Händen aus und beugte sich über den Verband, ein pausbäckiger blonder Junge, der eine tote und schneeweiße, ganz und gar reglose Taube untersuchte. »Es muss ganz weich sein.« Sondegger zog die steife Gaze herunter. »Ein guter Mann, Ihr Chirurg. Erstklassig, aber nicht brillant. Schrapnell? Einen Zentimeter tiefer … Mr. Wall, sind Sie mit Laurence Sterne vertraut?«
»Laurence Sterne«, sagte Tom wie aus weiter Ferne.
»Nein.«
»Er schrieb Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Ein äußerst originelles Werk, ein Meisterwerk der Komik, eine außerordentliche, selbstreflexive Analyse – und Behältnis der Informationen, die Sie suchen.«
»Wovon zum Teufel reden Sie?«
Sondegger verstärkte seinen Griff. »Im Buchrücken, Thomas. Im Boxerzimmer. Im Tristram Shandy .«Und dann, mehr im Tonfall leichter Unterhaltung, aber ebenso leise: »Sicherlich sind Ihnen die Wunder der Mikrofotografie nicht unbekannt.«
Ein Mikrofilm? Im Rücken eines Buches in Earls Zimmer?
»Erzählen Sie mir keinen Mist.«
Verächtlich ließ Sondegger die Hand los. »Glauben Sie, was Sie wollen. Es gibt einen Mikrofilm in dem Buch, und innerhalb von zehn Tagen wird ein Überraschungsangriff auf Ihr Land gestartet werden.«
»Fallschirmjäger werden über Washington abspringen?«, sagte Tom. »Erzählen Sie mir das, weil Sie ein wahrer amerikanischer Patriot sind?«
»Ich erzähle es Ihnen, weil es in meinem Interesse ist. Vergessen Sie den Tristram Shandy nicht, Thomas«, sagte Sondegger. »Wenigstens dieses Buch ist nicht substanzlos.« Er sprach wieder lauter, Davies-Frank durfte wieder mithören.
»Ihre Abneigung gegen Ihre rechte Hand hat etwas Biblisches, Mr. Wall. ›Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab.‹ Verführt Ihre Hand Sie zum Bösen? Haben Sie Angst davor, was sie tun könnte, bedauern Sie, was sie bereits getan hat? Sie haben in der Liebe versagt, Mr. Wall. Sie haben im Krieg versagt. Sie sind ein vielschichtiger Mensch, aber nichts davon ist ganz. Sie straucheln, Sie fallen. Sie versagen …«
21
2. Dezember 1941, Nachmittag
Tom öffnete die Wagentür und fasste nach dem Lenkrad, das nicht da war. Er rutschte auf die rechte
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