Alias XX
Zigaretten mehr in seiner Packung. Seine Hand schmerzte. Er machte sich am Schloss zu schaffen und trat in die Wärme des Liebesnests. Er setzte sich aufs Bett. Er würde nicht schlafen, doch das spielte keine Rolle. Sein Sichtfeld trübte sich.
Er verlor Zeit. Seine Augen schmerzten noch mehr, wenn er sie schloss. Er starrte auf die Wirbel des Teppichmusters. Der Türgriff bewegte sich, Tom straffte sich. Eine Halluzination? Nein. Der Griff bewegte sich erneut. Er packte mit der linken Hand eine Messinglampe und schaltete das Deckenlicht aus. Hatte sich der Türgriff wirklich bewegt? Wie lang war das her? Eine Sekunde? Eine Stunde? Er wartete.
Sondeggers Bühne wurde nicht von siebenundzwanzig eisernen Kettengliedern beschränkt, die in einer verschlossenen Schelle endeten. Er war von Kulissen umgeben, nicht von Fußfesseln. Er holte den länglichen Metallstift aus dem Nasenloch.
Er sang Ein deutsches Requiem, um die Geräusche zu übertönen. Er arbeitete blind, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und bog das Metall in eine funktionale Form. Selig sind, die da Leid tragen. Das Schloss öffnete sich, die Kette fiel ab. Er war frei. Er tötete die Wache. Er tötete den Stenotypisten, zog ihn aus und wechselte die Garderobe. Er fand weder Streichhölzer noch ein Feuerzeug, also setzte er einen Zettel mit dem Faden einer Glühbirne in Brand. Er blies, die Flamme loderte auf und fraß sich durch das Papier. Im Erdgeschoss stand er in der Küche des Bauernhofs und wartete mit ascheverschmiertem Gesicht. Ein dünner Rauchfaden wurde sichtbar, jemand rief »Feuer«, aber die Wachmänner blieben auf ihren Posten und ließen sich nicht ablenken. Im Haus ertönte ein Schuss – das Feuer hatte eine der Patronen erfasst, die Sondegger aus der Waffe des toten Wachmanns genommen hatte. Es folgten, nahezu zeitgleich, zwei weitere Schüsse.
Er summte vor sich hin. Denn alles Fleisch, es ist wie Gras. Drei Wachen kamen angerannt. Er ließ einen Messerschärfer – mit handlichem Griff und rauem Wetzstahl – in den Ärmel gleiten und trat in den Schrank, bis die Schritte auf der Treppe zu hören waren. Ein weiterer Schuss knallte. Er rannte hinaus, fuchtelte aufgelöst mit den Armen und spielte die Rolle des in Panik geratenen Stenotypisten für ein Publikum, das nur aus einer Person bestand. Der Wachmann war gut ausgebildet. Als Sondegger sich ihm näherte, hob er abwehrend den Unterarm. Sondegger trieb ihm den Wetzstahl ins Auge. Der dritte Satz des Requiems führte den Bariton ein, der zu Gott fleht – Sondeggers Stimme schwoll an, während er in dem gestohlenen Wagen über das englische Land fuhr. Im toten Briefkasten am Gough Square fand er Geld und eine Nachricht von Abendammer: Der Abwehragent unter dem Decknamen Digby könne sich ungehindert bewegen. Seine Loyalität sei noch immer anzuzweifeln. Thomas Wall sei wahrscheinlich an folgendem Ort zu finden … Sondegger lächelte. Hervorragende Arbeit. Er hatte nichts anderes erwartet, trotzdem – er war stolz auf sie. Er ließ ihr eine Nachricht zurück. Abendammer solle Beweise für Digbys Loyalität beschaffen, während er die beiden anderen Abwehragenten, Kruh und Gerring, beurteilen wolle. Erst Gerring. Ein in einer Londoner Kanzlei beschäftigter Advokat, der über öffentliche Schutzräume berichten sollte. Sondegger trug zu seiner Beamtenmiene eine Armbinde des städtischen Wasseramts und besichtigte die Schutzräume im Gerichtsviertel. Er stellte aufdringliche Fragen. Stunden vergingen. Dann war das Glück ihm hold: Er fand Gerring. Als der Abend in die Nacht überging, identifizierte er Gerrings britischen Führungsoffizier. Gerring arbeitete für den britischen Militärgeheimdienst. Er war ein Verräter. Ihr habt nun Traurigkeit.
Sondegger tauchte in der Stadt unter. Ein Agent der Abwehr, Gerring, war zum Feind übergelaufen. Einer – Digby – befand sich in Abendammers fähigen Händen. Kruh hatte er noch zu überprüfen. Wenn es groß angelegten Verrat gab, würde alles und jeder, der mit der Abwehr in Berührung gekommen war, vernichtet werden. Es war nicht schwierig, die Loyalität der Abwehragenten herauszufinden, ein unkomplizierter Zwischenakt, bevor der Vorhang sich öffnete. Aber jetzt, da er frei war, konnte die Vorstellung beginnen. Die Scheinwerfer richteten sich auf Thomas Wall.
25
3. Dezember 1941, Abend
Tom hielt den Atem an. Die Tür knarzte, fächerförmig fiel das Licht über den Teppich. Die Messinglampe in seiner Hand
Weitere Kostenlose Bücher