Alias XX
fühlte sich schwer und kalt an. Ein Kopf wurde ins Zimmer gestreckt, dunkles, gewelltes Haar, in der Mitte gescheitelt. Renard?
Toms Lippen verzogen sich zu einem starren Grinsen, als er mit der Lampe ausholte. Doch dann folgte dem Kopf eine bloße Schulter. Tom riss den Arm hoch, und die Lampe krachte gegen die Wand.
»Großer Gott!«, sagte Audrey. »Tommy?«
Er schaltete das Deckenlicht ein.
»Wenn Sie allein sein möchten«, sagte sie, »dann müssen Sie es nur sagen.«
Zehn Minuten später saß er im Sessel, das Mädchen hatte sich auf dem Bett zusammengerollt und sagte: »Vor zwei Wochen bin ich auf dem Markt zufällig Miss Boyd begegnet. Einer Nachbarin, damals, als Dad noch am Leben war. Sie hat sich erkundigt, wie’s mir geht, sehr höflich. Die hinterhältige Kuh. Sie wissen schon, zu der Sorte gehört sie.«
»Klar«, sagte Tom, der nicht die geringste Ahnung hatte.
»Ich hab ihr gesagt, ich arbeite jetzt als Ekdysiastin. Inch hat mir das Wort beigebracht. Sie meinen vermutlich, ich würde mich für das, was ich tue, schämen, oder?«
»Tun Sie das?« Er hatte das Gefühl, dass sie auf irgendwas hinauswollte.
»Dad würde es nicht billigen. Oh, er würde es nicht missbilligen. Er würde sagen, ich sei ganz und gar die Tochter meiner Mum. Das würde er sagen, aber insgeheim würde er sich das Gleiche denken wie Sie.«
»Ich weiß nicht, was ich mir denke.«
Sie fixierte ihn mit starrem Blick. Ihr Hals war wie aus Elfenbein. »Aber ich«, sagte sie. »Dad würde sich selbst die Schuld geben. Er hat Verantwortung für Dinge übernommen, auf die er keinen Einfluss hatte. Für Mum, zum Beispiel. Der Arme, lieber würde er sterben, als mich … na ja, er ist ja schon gestorben, nicht wahr?«
Sie hatte den Blick gesenkt. Ihr Haar war hochdrapiert. Eine vorwitzige schwarze Locke ringelte sich über den Hals. Sie atmete tief bewegt ein, ihre Brüste hoben und senkten sich. Er stand auf und betrachtete ihren katzenhaft auf dem Bett zusammengerollten Körper.
Sie hob ihre glatten, blassen Arme hinter den Nacken und löste ihr Haar. Die Innenseite ihres rechten Arms war mit Sommersprossen bedeckt. »Sogar mit mir im Schlepp hat Mum, ohne es zu wollen, Männer bezaubert – wenn sie auf der Straße an der Schuhschnalle herumfingerte, konnte sie drei Herzen auf einmal brechen.« Audrey legte der Reihe nach ihre Haarklammern auf den Nachttisch. »Als sie jung war, schrieben sie Oden auf ihre Augenbrauen, auf ihre Fußknöchel – die dämlichsten davon hat sie aufgehoben.«
Tom setzte sich aufs Bett. Die Matratze senkte sich, ihr Oberschenkel stieß gegen seine Hüfte. Vielleicht wollte sie auf gar nichts hinaus. Vielleicht war sie betrunken. Sie wirkte nicht betrunken. Sie wirkte begierig und ängstlich.
»Dad erzählte sie immer, sie hätte einen Gentleman heiraten können, der ihre Ohrläppchen mit rosafarbenen Perlen verglichen hat. Sie bereute nichts. Sie hat nie etwas bereut.«
»Dann hat das Leben es gut mir ihr gemeint.«
»Sie hat ihre Familie verloren, Tommy, nachdem sie Dad geheiratet hat. Sie hat vor mir zwei Kinder verloren. Sie trauerte um sie wie eine Sizilianerin. Dann hörte sie auf zu trauern und bereute nichts.«
»Einfach so.«
»Es ist nicht so einfach. Versuchen Sie es.«
»Ich würde noch nicht mal wissen, wo ich beginnen sollte.«
»Fangen Sie einfach an«, sagte sie. »Hier.« Heiß lag ihre Hand auf seinem Nacken. Sie zog ihn zu sich heran. Sie küssten sich.
Harriet, dachte er. Sanft löste er sich. Sie betrachtete sein Gesicht und versuchte abzuschätzen, was sie darin sah. »Meine Mum trug ihr Haar in einem Knoten, dazu Fransenröcke und Peter-Pan-Kragen. Eines Abends trank sie zu viel und fiel in einen Springbrunnen. Dad sah es zufällig und begleitete sie nach Hause. Er missbilligte ihre gezupften Augenbrauen und ihren Lippenstift, dass sie trank und rauchte. Er war anständig und rechtschaffen und vollkommen langweilig – so was Ähnliches hat sie ihm lang und breit in ihrem trunkenen Zustand erklärt.«
Er nickte. Worauf Audrey auch immer hinauswollte, sie hatte es fast erreicht.
»Und jetzt hören Sie zu, Tommy. Am nächsten Tag wusste sie, dass sie ihn liebt. Das können Sie für lächerlich halten, aber sie wusste es. Ohne den geringsten Zweifel, ohne die geringste Reue. Zwei Wochen lang musste sie nach ihm suchen, bis sie ihn ausfindig gemacht hatte, zwei weitere brauchte sie, um ihn zu verführen. Das hat sie mir mal erzählt. Sie sagte: ›Du wirst es
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