Alibi für einen König
Mädchen. Georges Sohn und seine Tochter waren zwar durch die Ächtung ihres Vaters von der Thronfolge ausgeschlossen. Aber ich nehme doch an, daß eine solche Ächtung widerrufen oder annulliert oder sonstwie aufgehoben werden kann. Wenn Richards Thronanspruch wacklig war, dann mußte er all diese Personen fürchten.«
»Und haben sie ihn alle überlebt?«
»Das weiß ich nicht. Ich werde mir aber alle Mühe geben, es herauszufinden. Auf jeden Fall überlebte ihn die älteste Schwester der Knaben, denn sie wurde als Heinrichs Gemahlin Königin von England.«
»Mr. Grant, lassen Sie uns jetzt einmal ganz von vorn anfangen. Ohne Geschichtsbücher, moderne Versionen oder irgendwelche Meinungen und Ansichten anderer Menschen. Die Wahrheit findet man nicht in irgendwelchen Berichten, sondern in den Rechnungsbüchern.«
»Eine hübsche Formulierung«, sagte Grant beifällig. »Und was besagt sie?«
»Sie besagt alles. Die wahre Geschichte findet ihren Niederschlag in Aufzeichnungen, die keine geschichtlichen Aufzeichnungen sein sollen. In persönlichen Briefen, in Grundbüchern, in den Abrechnungen der Geheimschatulle, in den Aufzeichnungen des Hofkämmerers. Wenn zum Beispiel jemand behauptet, Lady Sowieso hätte nie ein Kind gehabt, und man findet dann in den Rechnungsbüchern eine Eintragung: ›Für den Sohn, den Mylady am Abend des Michaelitags geboren hat: Fünf Ellen blaues Band, vier und einen halben Penny!‹ dann kann man mit einiger Berechtigung annehmen, daß Mylady am Abend des Michaelitages einen Sohn geboren hat.«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Schön. Und wo wollen wir nun anfangen?«
»Sie leiten die Untersuchungen. Ich bin nur der Nachseher.«
»Der wissenschaftliche Arbeiter.«
»Besten Dank. Was wünschen Sie zu erfahren?«
»Nun, da wäre es zunächst vielleicht nützlich, um nicht zu sagen aufschlußreich, zu wissen, wie die Hauptfiguren auf Eduards Tod reagiert haben. Ich meine, auf den Tod Eduards IV. Eduard starb unerwartet, sein Tod muß jedermann überrascht haben. Ich würde gern wissen, wie die Beteiligten nun reagierten.«
»Das ist eine klare und einfache Frage. Ich nehme an, Sie meinen, wie sie sich verhielten, nicht, was sie dachten?«
»Ja, natürlich.«
»Nur die Geschichtenschreiber erzählen uns, was die Leute dachten. Wissenschaftliche Forscher halten sich streng an das, was sie taten.«
»Ich will auch gar nichts anderes wissen. Ich habe mich immer an das alte Sprichwort gehalten, das da behauptet, Taten redeten eine deutlichere Sprache als Worte.«
»Dabei fällt mir ein: Was erzählt uns der geheiligte Sir Thomas über Richards Verhalten, als er vom Tod seines Bruders erfuhr?« wollte Brent wissen.
»Der geheiligte Sir Thomas, alias John Morton, sagt, Richard habe sich sofort daran gemacht, die Königin zu becircen und sie zu überreden, den jungen Prinzen nur mit einer kleinen Leibwache von Ludlow nach London zu schicken. Und er habe ein Komplott geschmiedet, den Knaben unterwegs zu entführen.«
»Wenn man also dem geheiligten More glauben darf, dann hat Richard von Anfang an versucht, die Stellung des Knaben einzunehmen?«
»Jawohl.«
»Nun, wir werden zumindest herausbekommen müssen, wer wo war und was tat. Ganz gleich, ob wir daraus auf gewisse Absichten schließen können oder nicht.«
»Ja, genau das will ich. Genau das.«
»Polizist!« neckte Carradine. »Wo waren Sie um fünf Uhr nachmittags am fünfzehnten dieses Monats, und so weiter.«
»Das hat noch immer seinen Zweck erfüllt«, versicherte ihm Grant.
»Na schön. Ich werde jetzt gehen und ebenfalls meinen Zweck erfüllen. Sobald ich die gewünschten Informationen habe, melde ich mich wieder. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Grant. Das macht wirklich viel mehr Spaß als die Bauern.«
Er verschwand in der Dämmerung des Winternachmittags. Sein pompös wallender Mantel verlieh dem mageren jungen Körper eine geradezu akademische Würde.
Grant knipste seine Nachttischlampe an und vertiefte sich in das Muster, das sie an die Decke warf, als hätte er es noch nie zuvor gesehen.
Das Problem, das der junge Amerikaner da so zufällig aufgespürt hatte, war einzigartig und faszinierend. Es war ebenso unerwartet wie verblüffend.
Was für eine Erklärung, was für einen Grund konnte es wohl für das Fehlen einer zeitgenössischen Anschuldigung geben?
Heinrich hätte nicht einmal einen Beweis für Richards persönliche Schuld gebraucht. Die Knaben hatten sich in Richards Obhut befunden. Wenn sie
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