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Alibi für einen König

Alibi für einen König

Titel: Alibi für einen König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josephine Tey
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Tower gar nicht erwähnt wird?« fragte Grant am nächsten Morgen den Chirurgen.
    »Wirklich?« sagte der Chirurg. »Das ist aber doch sehr merkwürdig, was?«
    »Außerordentlich merkwürdig. Können Sie sich das erklären?«
    »Vermutlich wollte man den Skandal unterdrücken. Der Familie zuliebe.«
    »Aber es kam ja niemand von seiner Familie auf den Thron. Er war der Letzte seines Stammes. Sein Nachfolger war der erste Tudor. Heinrich VII.«
    »Ach, natürlich. Das hatte ich vergessen. Geschichte war nie meine Stärke. In der Geschichtsstunde habe ich immer meine Algebra-Hausaufgaben gemacht. Ich finde, in der Schule wird einem die Geschichte nie so recht schmackhaft gemacht. Vielleicht sollte man den Schülern mehr Porträts zeigen.« Er warf einen Blick auf Richard III. und wandte sich dann wieder seinen ärztlichen Pflichten zu. »Das macht aber einen sehr gesunden und erfreulichen Eindruck. Keine stärkeren Schmerzen mehr?«
    Und er ging wieder, freundlich und zerstreut. Er interessierte sich für Gesichter, weil sie mehr oder weniger zu seinem Beruf gehörten, aber Geschichte war etwas, was er zu anderen Zwecken verwandt hatte. Etwas, das zugunsten der Algebra-Aufgaben unter dem Pult hatte zurückstehen müssen. Ihm oblag die Sorge um menschliche Körper und um das Wohlbefinden seiner Patienten.
    Für abstrakte Probleme hatte er keine Zeit.
    Auch die Oberin hatte dringendere Sorgen. Sie hörte höflich zu, als Grant ihr seine Schwierigkeiten erläuterte, aber er hatte den Eindruck, daß sie ihn mit seinen Problemen lieber an die Fürsorgerin verwiesen hätte, die sich regelmäßig um die Patienten zu kümmern hatte. Diese Dinge waren nicht ihre Aufgabe. Sie blickte von erhabener Höhe auf den großen Bienenkorb herab, der unter ihr von Geschäftigkeit wimmelte und in dem jedes Geschäft dringend und wichtig war. Man durfte nicht erwarten, daß sie sich mit etwas befaßte, was mehr als vierhundert Jahre zurücklag.
    Grant war versucht zu sagen: Aber gerade Sie sollten sich dafür interessieren, was königlichen Personen zustoßen kann. Auch Ihr Ruf ist verletzlich. Schon morgen kann ein Gerücht Sie Ihre Stellung kosten. Aber sein besseres Ich sagte ihm, daß er mit seinen ausgefallenen Problemen den ohnehin schon bis zum Rand gefüllten Vormittag einer Oberin ohne ersichtlichen Grund nur noch mehr belasten würde.
    Die Zwergin wußte nicht, was eine Ächtung durch Parlamentsbeschluß war, und ließ auch keinen Zweifel darüber, daß sie gar nichts darüber wissen wollte.
    »Das Ding da wird bei Ihnen allmählich zum Komplex«, sagte sie und zeigte auf das Porträt. »Das ist ja ungesund. Warum lesen Sie nicht eines Ihrer hübschen Bücher?«
    Sogar Marta, auf deren Besuch er sehr gespannt war, weil er ihre Reaktion auf diesen seltsamen, ganz neuen Aspekt kennenlernen wollte, sogar Marta schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit, war sie doch ganz von ihrem Zorn auf Madeleine March erfüllt:
    »Nachdem sie mir quasi versprochen hatte, daß sie es schreibt! Nach all unseren Besprechungen! Ich hatte schon fest damit gerechnet für die Zeit, wenn das langweilige Stück, in dem ich jetzt spiele, endlich abgesetzt sein wird. Ich hatte sogar schon mit Jack über die Kostüme gesprochen! Und jetzt will sie plötzlich einen ihrer gräßlichen kleinen Krimis schreiben. Sie behauptet, sie müsse ihn schreiben, solange er noch frisch ist. Dämliche Redensart!«
    Er lauschte Martas Wehklagen mit großem Mitgefühl. Gute Theaterstücke waren Mangelware, und gute Dramatiker konnte man mit Platin aufwiegen. Aber ihm war, als ob er ihren Kummer hinter einer Glasscheibe miterlebte. An diesem Morgen war ihm das 15. Jahrhundert viel näher und wirklicher als alle Theaterintrigen.
    »Ich glaube nicht, daß sie zu ihrem Krimi sehr lange braucht«, meinte er tröstend.
    »Das nicht, den schreibt sie in sechs Wochen. Aber wer weiß, wann ich sie mir wieder vorknöpfen kann, wenn sie jetzt hinter ihrem Schreibtisch verschwindet. Tony Savilla möchte, daß sie ihm ein Marlborough-Stück schreibt. Und du kennst ihn ja, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Dann verkauft er Eisschränke an Eskimos.«
    Ehe sie sich verabschiedete, kam sie noch einmal kurz auf das Problem der Ächtung zu sprechen.
    »Es gibt ganz bestimmt irgendeine Erklärung dafür, mein Lieber«, sagte sie im Türrahmen.
    Natürlich gibt es eine Erklärung, hätte er ihr am liebsten nachgerufen. Aber was für eine? Die ganze Sache ist ebenso unwahrscheinlich

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