Alibi für einen König
in London die Regierung übernahm?«
»Augenblick mal. Da steht es.« Grant überflog den Absatz. »Nein, das war im Jahr 1502.« Schlagartig war er sich über die Bedeutung des eben Gesagten im klaren. Er wiederholte noch einmal langsam und verwirrt: »Im Jahr – 1502.«
»Aber – aber – aber das war –«
»Ja. Beinahe zwanzig Jahre später.«
Brent suchte nach seinem Zigarettenetui, kramte es aus der Tasche und steckte es dann hastig wieder ein.
»Bitte, rauchen Sie ruhig«, sagte Grant. »Was ich brauche, ist ein doppelter Kognak. Ich glaube, daß mein Gehirn nicht mehr ganz richtig funktioniert. Im Augenblick komme ich mir vor wie als Kind, wenn man mir beim Blindekuhspiel die Augen verband und mich im Kreis drehte.«
»Ja«, sagte Carradine. Er nahm eine Zigarette und zündete sie an. »Völlig im Dunkeln und hochgradig schwindlig.«
Er starrte auf die Spatzen vor dem Fenster.
»Es können doch nicht alle Schulbücher der Welt falsch sein«, sagte Grant nach einer Pause.
»Und warum nicht?«
»Ja, können sie?«
»Früher hätte ich das für unmöglich gehalten. Aber heute bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Kommt Ihre Skepsis nicht etwas plötzlich?«
»Nein. Sie kam mir schon viel früher.«
»Und darf man fragen, wann?«
»Im Zusammenhang mit einer kleinen Rauferei, die man das Massaker von Boston nennt. Jemals davon gehört?«
»Aber natürlich.«
»Nun, als ich einmal im College etwas nachschlagen wollte, kam ich ganz zufällig darauf, daß das Massaker von Boston nichts weiter war, als daß eine Rotte von Radaubrüdern einen Wachtposten mit Steinen bewarf. Die Gesamtverluste beliefen sich dabei auf vier Mann. Mr. Grant, ich bin im Glauben an das Massaker von Boston groß geworden. Meine Hühnerbrust weitete sich vor Stolz, wenn ich nur daran dachte. Der Gedanke an die hilflosen Zivilisten, die von den Gewehrsalven britischer Truppen niedergemäht wurden, versetzte mein Blut in Wallung. Sie können sich nicht vorstellen, welch ein Schock es für mich war, als ich herausbekam, daß die ganze Geschichte in Wirklichkeit nichts anderes war als eine ganz gewöhnliche Rauferei, die normalerweise in den Spalten der Lokalpresse nicht mehr Platz einnehmen würde als ein Zusammenstoß zwischen Polizei und streikenden Arbeitern.«
Grant gab keine Antwort, sondern starrte angestrengt auf die Zimmerdecke, als könnte er dort eine Lösung finden.
»Das ist vielleicht einer der tieferen Gründe, weshalb mich Geschichtsforschung so interessiert«, sagte Carradine. Und dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und starrte wieder auf die Spatzen.
Schließlich streckte Grant wortlos die Hand aus. Carradine gab ihm eine Zigarette und Feuer.
Sie rauchten schweigend.
Es war Grant, der schließlich das Spatzenkonzert unterbrach.
»Das ist wirklich sehr interessant. Sehr. So wird die Geschichte gemacht. Jeder Einzelne, der dabei war, wußte, daß das Massaker von Boston purer Unsinn war. Und dennoch wurde dem niemals widersprochen. Heute ist diese durch und durch verlogene Geschichte zur Legende geworden. Die Menschen, die noch wußten, wie die Tatsachen verfälscht wurden, sahen zu, wie der Mythos entstand, und schwiegen.«
»Ja. Das nennt sich Geschichte.«
»Da lobe ich mir die exakte Forschung. Schließlich ist die Wahrheit niemals im Bericht irgendeines Menschen zu finden. Man muß sie in all den vielen kleinen tatsächlichen Geschehnissen der Zeit aufspüren. Eine Zeitungsannonce, ein Hausverkauf, der Preis eines Ringes – das sind die Dinge, die uns Aufschluß geben können.«
Grant ließ sich wieder in die Kissen fallen und starrte zur Decke empor. Das Spatzenkonzert erfüllte wiederum das Zimmer.
»Was amüsiert Sie denn so?« fragte Grant, der seinem Besucher endlich wieder den Kopf zugewandt hatte und dessen eigenartigen Gesichtsausdruck bemerkte.
»Jetzt haben Sie zum erstenmal wie ein Polizist ausgesehen.«
»Ich fühle auch wie ein Polizist. Ich denke wie ein Polizist. Ich stelle mir die Frage, die sich jeder Polizist bei jedem Mordfall stellt: ›Wer hat den Nutzen davon?‹ Und zum erstenmal kommt mir der Gedanke, daß die so schön ins Konzept passende Theorie, Richard hätte die Knaben beiseite geschafft, um sich auf dem Thron sicherer zu fühlen, ein Riesenblödsinn ist. Nehmen wir mal an, er hat die Knaben wirklich beiseite geschafft. Dann standen zwischen ihm und dem Thron immer noch die fünf Schwestern dieser Knaben. Und außerdem Georges Kinder, ein Knabe und ein
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