Alibi
konnte jeden Augenblick herunterkommen, und ich wollte mich vorher entfernen.»
«Danke», sagte der Inspektor. Er zögerte kaum merklich, als hätte er gern weitergefragt, aber Miss Russell betrachtete seine Bemerkung offenbar als Schlusswort und verließ das Zimmer.
«Ein rechtes Mannweib, finden Sie nicht auch?», sagte der Inspektor und blickte ihr nach. «Warten Sie. Die Vitrine steht vor einem Fenster, so sagten Sie doch, Doktor, nicht wahr?»
Raymond antwortete für mich.
«Ja, vor dem linken Fenster.»
«Und das Fenster stand offen?»
«Beide Fenster waren weit geöffnet.»
«Nun, ich denke, mit dieser Frage brauchen wir uns nicht weiter zu befassen. Jemand – ich sage absichtlich jemand – konnte, wann immer es ihm behagte, sich des Dolches bemächtigen, und wann dies schließlich genau erfolgte, spielt jetzt keine Rolle. Ich komme morgen mit dem Chef wieder, Mr. Raymond. Bis dahin behalte ich den Schlüssel jener Tür bei mir. Ich will, dass Colonel Melrose alles genau so sieht, wie es ist. Ich weiß zufällig, dass er den heutigen Abend am anderen Ende der Grafschaft verbringt und wohl auch dort übernachtet …»
Wir sahen, dass der Inspektor den Krug an sich nahm.
«Ich werde dies sehr sorgsam verwahren müssen», bemerkte er, «denn es wird nach mehr als einer Richtung ein äußerst wichtiges Beweisstück sein.»
Als ich etwas später mit Raymond aus dem Billardzimmer trat, lachte dieser leise auf. Ich fühlte einen Druck auf meinem Arm und folgte der Richtung seiner Blicke. Inspektor Davis schien Parkers Ansicht über ein kleines Büchlein einzuholen.
«Ein wenig auffällig», flüsterte mein Begleiter. «Parker wird also verdächtigt! Sollten wir Inspektor Davis nicht auch mit einigen Fingerabdrücken erfreuen?» Er nahm zwei Karten vom Kartenständer, wischte sie mit seinem seidenen Taschentuch ab, gab eine davon mir und nahm die zweite selbst. Dann überreichte er sie lächelnd dem Polizeiinspektor. «Als Andenken», sagte er. «Die eine von Dr. Sheppard, die andere von mir.»
Jugend trauert nicht lange. Nicht einmal die brutale Ermordung seines Freundes und Arbeitgebers vermochte Geoffrey Raymonds Stimmung lange zu dämpfen. Vielleicht soll es so sein. Ich weiß es nicht.
Indessen war es sehr spät geworden, und ich hoffte, Caroline werde bei meiner Heimkehr schon im Bett sein. Ich hätte sie besser kennen sollen.
Sie hielt warmen Kakao für mich bereit, und während ich trank, entlockte sie mir die Geschichte aller Vorfälle dieses Abends. Ich verschwieg die Erpressungsaffäre und begnügte mich damit, ihr die mit dem Mord zusammenhängenden Tatsachen zu berichten.
«Die Polizei verdächtigt Parker», sagte ich, während ich mich erhob, um zu Bett zu gehen. «Es scheint recht belastendes Material gegen ihn vorzuliegen.»
«Parker!», sagte meine Schwester. «Lächerlich! Der Inspektor scheint ein ausgesprochener Narr zu sein. Parker! Das kannst du mir nicht weismachen …»
7
A m nächsten Morgen erledigte ich ganz unverzeihlich oberflächlich meine Krankenbesuche. Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass ich gerade keine sehr ernsten Fälle zu behandeln hatte. Bei meiner Rückkehr begrüßte Caroline mich schon in der Halle.
«Flora Ackroyd ist hier», meldete sie in erregtem Flüsterton.
«Was?»
«Sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Sie ist schon seit einer halben Stunde hier.»
Caroline ging in unseren kleinen Salon, und ich folgte.
Flora saß auf dem Sofa neben dem Fenster. Sie trug schwarze Kleidung, und ihre Hände waren nervös verkrampft. Ich erschrak über den Ausdruck ihres Gesichtes.
Alle Farbe schien aus ihm gewichen zu sein.
«Doktor Sheppard, ich komme, Sie um Ihren Beistand zu bitten.»
«Natürlich wird er Ihnen helfen», sagte Caroline.
«Ich möchte Sie bitten, mich zu Ihrem Nachbarn zu begleiten.»
«Zu meinem Nachbarn?», fragte ich erstaunt.
«Sie wollen den kleinen Mann besuchen?», rief Caroline.
«Ja. Sie wissen doch, wer er ist?»
«Nicht sicher», sagte ich. «Wir nehmen an, dass er früher einmal Friseur war.»
Floras Augen öffneten sich weit.
«Aber das ist doch Hercule Poirot! Sie wissen doch, wen ich meine – der berühmte Privatdetektiv! Vor einem Jahr zog er sich zurück und ließ sich hier nieder. Onkel wusste, wer er war; aber da Mr. Poirot von den Belästigungen der Leute verschont bleiben wollte, um ein ruhiges Leben führen zu können, hatte Onkel ihm versprochen, niemandem ein Sterbenswörtchen zu
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