Alicia II
Augenblick tot umfallen, tauchte auf. Er blieb an der Tür stehen und fragte sich offenbar, ob es schicklich sei, daß er gerade jetzt hereinkomme. Rosalie stand auf und ging ihm entgegen. Ihre Stimme klang, als sie ihn ansprach, ganz anders als vorhin bei mir. Weicher im Ton, wärmer in der Modulation. Es dauerte einen Augenblick, bis ich erkannte, was es war. Mitleid.
»Hallo, Martin, wie schön, dich wiederzusehen, Sohn. Willst du mit mir beten?«
Martin nickte, und Rosalie ging zum Eckaltar. Die Schultern des Mannes zuckten. Er weinte. Rosalie umarmte ihn, flüsterte ihm etwas zu, küßte ihn auf die Stirn. Allmählich beruhigte sie ihn, und sie wandten sich zusammen dem Altar zu. Rosalie berührte etwas mit dem Fuß, und ein weiches Licht schuf eine Art Aura um die St. Ethel-Statue. Ich konnte nicht verstehen, was sie und der Neuankömmling flüsterten, aber es mußte sich um ein Gebet handeln. Als sie sich wieder umdrehten, sah das Gesicht des jungen Mannes friedlich aus, und er verließ die Kirche ziemlich forschen Schrittes. Was Rosalie auch getan haben mochte, es hatte gewirkt. Sie sah ihm nach. Ihre Augen schimmerten, auch sie hatte geweint. Jetzt hatten ihre Augen einen mehr bläulichen Ton, als habe die Verfärbung einen Teil der religiösen Zeremonie gebildet. Der Adel der Religiosität, ob echt oder nicht, machte sie anziehender. Sogar die zackige Narbe auf ihrer Wange, die sich gegen die gesunde Röte ihrer Haut stärker abhob, schien eine tiefere Bedeutung anzunehmen.
»Eine Seele gerettet?« fragte ich, als sie zu uns zurückkehrte.
Alicia sah mich böse an, ärgerlich über meine Leichtfertigkeit.
Doch Rosalie blieb ruhig.
»Das können Sie getrost sagen«, erklärte sie und setzte sich wieder. »Martins Tag für die Erneuerungskammer ist gekommen. Er muß sich morgen zum Abtransport melden. Er brauchte geistliche Hilfe, um den Mut dazu zu finden.«
»Dann haben Sie ihm geraten, sich zu stellen?«
»Ja, natürlich.«
»Warum haben Sie ihm nicht geraten davonzulaufen? Schließlich tun das viele.«
»Das ist wahr, aber es wäre nicht das Richtige für ihn. Wer sich der Botschaft St. Ethels verschrieben, wer sich entschlossen hat, ihr sein Leben zu opfern, muß die Reise ins Beinhaus antreten.«
»Selbst wenn er wie dieser junge Mann vor Angst fast vergeht?«
»Heiligkeit schließt Feigheit nicht aus. St. Ethel gestand ihre Furcht ein, bevor sie sich vor dem Beinhaus anstellte.«
»Er ist also zu Ihnen gekommen, um seine Feigheit behandeln zu lassen.«
»Es ist normal, am Abend vor der Hinrichtung den Trost eines Priesters zu suchen. Der Mensch braucht dann die Versicherung, daß seine Seele erhalten bleibt, wenn sein Körper vernichtet wird.«
»Und das glauben Sie? Sie glauben, daß die Seele überlebt, wenn der Körper wiederverwertet wird?«
Rosalie lächelte. Es war ihr priesterliches Lächeln.
»Sie verstehen die Prinzipien unserer Religion besser als die meisten von uns.«
»Sie sind mir … äh … einmal erläutert worden.«
»Sehr gut. Nun zu Ihrer Frage: Nein, ich bin nicht immer überzeugt davon, daß die Seele das Beinhaus, die Wiederverwertung und schließlich den Tod des Körpers überlebt. Das ist Teil der Lehre St. Ethels, aber ich bin nicht immer überzeugt davon, daß sie wirklich eine Heilige war. Trotzdem scheint der Kampf um meinen Glauben es der Mühe wert zu sein, daß ich ihm mein kurzes Leben widme. Schließlich ist es das, was die Priester immer für die Leute getan haben – sie haben um ihren Glauben gekämpft, damit die anderen die Freiheit haben, den Glauben zu ignorieren.«
»Rosalie«, fiel Alicia ein, »diese Diskussion ist ja sehr interessant, aber wir haben …«
»Darauf kommen wir noch, meine Liebe. Ich muß über Ihren Freund
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