Alicia II
mach dir keine Sorgen, morgen früh bin ich pünktlich um acht Uhr dreißig hier.«
»Gut. Komm, gehen wir zum Abendessen. Und da ich der Gastgeber bin, wollen wir uns echte Lebensmittel leisten.«
»Also, wenn es dich dazu bringt, von deiner Brieftasche das Vorhängeschloß abzunehmen, sollte ich mich öfters erneuern lassen.«
Er lächelte.
»Wenn ich es mir recht überlege, bist du ein gutes Argument gegen das Erneuern. Vielleicht schreibe ich der aufrührerischen Gruppe einen Brief.«
8
Wir aßen in einem nachgemachten Fischrestaurant. Das heißt, das Restaurant war nachgemacht, das Essen war recht gut. Es gab eine köstliche Seezunge mit Mandeln (Sojabohnen anstelle der Mandeln, aber was soll’s), und der Fisch war gerade richtig gekocht, weder so weich wie ein nasser Lappen noch so hart, daß er einem die Kehle zerkratzte. Dazu gab es alle möglichen Beilagen. Zum Beispiel Rüben. Es war Jahre her, daß ich eine saftige rote Rübe probiert hatte, aber hier gab es sie, gezogen auf wieder urbar gemachtem Land und jedem Ersatz, der mir je begegnet war, weit überlegen.
Was das Restaurant grotesk machte, war seine pseudo-nautische Dekoration. Ein Raum schwankte sogar sanft in Imitation eines Schiffs auf hoher See. Dort speisten wir nicht.
Da das Lokal am Ufer lag, gingen die Fenster auf den Erie-See hinaus, aber die Fenster hatten besonders gefärbtes Glas, das seine tote Häßlichkeit in eine scheinbar unvergiftete, reizende Seelandschaft verwandelte. Ebenso gut hätte man eine Mammut-Version von Bens ganz und gar künstlichen Fensterbildern anbringen können, grüne Felder und springende Hirsche. Ich hätte das besser gefunden als diese Verschönerung einer abstoßenden Seelandschaft. Ich beklagte mich bei Ben darüber, doch er zuckte nur die Schultern und sagte: »Das ist Cleveland.«
Ich erzählte ihm von meinen Plänen, wie ich mein Leben in dieser Runde reicher an Abenteuern gestalten wollte.
»Zweite-Lebensspanne-Syndrom«, bemerkte er.
»Was ist das?«
»Am Ende der ersten Lebensspanne ist es nur natürlich, daß der Mensch dazu neigt, Rückschau zu halten. Die meisten Rückschauen sind Kataloge von Verlusten – verpaßte Gelegenheiten, Geschmäcke, die ungeschmeckt, und Freuden, die ungefreut blieben. Was einem entgangen ist, möchte man nach der Erneuerung und Erholung als erstes tun.«
Mir gefiel es nicht, wie Ben in seiner professionellen Art meinen Träumen den Schmelz nahm, deshalb wechselte ich das Thema. Später am Abend kam er darauf zurück.
»Wenn dich der Hafer oder eine andere Getreideart sticht, gehst du am besten hinunter zum Hough-District. Dort ist jetzt alles organisiert, so eine Art sorgfältig programmierter Unordnung. Das ganze Gebiet ist neu aufgebaut. Es lag jahrzehntelang in Trümmern, nachdem der große Brand es zerstört hatte und der Befehl erging, es lieber liegenzulassen, wie es war, als nur das Getto wiederherzustellen. Das Endergebnis war, daß das Getto nach Cleveland Heights verlegt wurde. Hough nennt sich jetzt Vergnügungsviertel, und es ist Klasse. Gefährlich, aber Klasse.«
»Warum gefährlich?«
»Nun, regelmäßig kommt es dort zu einem gewissen Maß an Gewalttätigkeit. Die Ausgemusterten sehen das Viertel als eine Art symbolischen Hafens an, und manchmal gefällt es ihnen, ein bißchen Ärger zu stiften, um die Glücklicheren zu strafen. Es liegt dort eine Menge Bitterkeit und Groll in der Luft, wenn man weiß, wo man danach suchen soll. Aber wer sich um nichts weiter als sein eigenes Vergnügen und Verlangen kümmert, dem geschieht nichts. Auch sind viele Polizisten da, und …«
»Erzähl mir bloß nicht, alle diese gemeinen Gesetze seien
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