Alicia II
Schweigen, indem sie darauf hinwies, solange wir sicher unter der Erde blieben und uns nur selten hinauswagten, seien wir nicht befugt, solche Sachen zu beurteilen. Sie sagte, wir betrachteten uns als die Auserwählten innerhalb der Elite, die für alle anderen Menschen Entscheidungen treffen dürften. Und in Wirklichkeit seien wir Einsiedler, die sich in dunklen Höhlen versteckten und jeden Kontakt mit der realen Welt vermieden, indem wir vorgäben, zu ihrem Fortschritt beizutragen.
»Jedenfalls«, ergriff Ben wieder das Wort, »unterstützte vieles den Gedanken der Erneuerung – der Beginn wichtiger Reformen, wissenschaftliche Entdeckungen und die Lösung von weltweiten Problemen, die seit Jahrzehnten überfällig war. Sogar dieser unterdrückte Glaube an eine Elite schien gerechtfertigt zu sein. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Es gibt Leute, die die Erneuerung abschaffen wollen. Ich bezweifle, daß sie Erfolg haben werden, solange es ein großes Geschäft ist, aber möglich wäre es schon. Also, ob zu recht oder zu unrecht, die Massen revoltieren. Oder doch ein kleiner Prozentsatz der Massen. Es heißt, die ersten Revolutionäre hätten auch die ersten Operationen an sich vornehmen lassen. Was meiner Meinung nach eine Menge über Hingabe und Opferwilligkeit aussagt.«
»Wo finden sie die Ärzte?«
»Das sind Romantiker, nehme ich an.«
»Wie bitte?«
»Ein Arzt hat Augenblicke, in denen er einen altmodischen Operationssaal betreten und sich seinen Kittel von oben bis unten mit Blut bekleckern möchte, nur des nostalgischen Abenteuers wegen. Und die Gefahr, denk an die Gefahr! Wenn man geschnappt wird, erhält man keine Erneuerung mehr! Das ist eine handfeste Gefahr, das mußt du zugeben.«
»Alles ein bißchen zu grausig für Romantik.«
»Ich glaube, du weißt nicht, was Romantik ist.«
Er strich sich mit der Hand über das Hemd, als wolle er Blut abwischen.
»Ist das denn wirklich ein so großes Problem?« fragte ich. »Ich meine, kann man die fehlerhaften Organe nicht einfach ersetzen?«
»Durchaus nicht, mein lieber Voss. Die Organbänke sind heutzutage nur noch Umschlagplätze. Wenn ein Organ oder ein Satz Organe eintrifft, was selten geschieht, liegen schon lange Listen von Anwärtern vor. Das ist ja so paradox am Erneuern: Wir brauchen ganze Körper, und deshalb werden die verfügbaren Teile immer knapper. Und die Teile, die verfügbar sind, werden von den Mechanikern der Erneuerungskammern eifersüchtig gehortet. Körper, bei denen die Erneuerung nicht klappt, werden zerstückelt, um Vorrat für Fälle zu schaffen, in denen ein Ersatz notwendig ist. Dazu kommt, daß die Sabotageakte die Wartelisten verlängern, während sie gleichzeitig bei den Erneuerungsspezialisten Anfälle hervorrufen, weil hauptsächlich die Sabotage den Bedarf an neuen Organen steigert. Man kann nicht einmal mehr mit Organen handeln. Früher war es möglich, eine Niere gegen ein Herz, eine Lunge für eine Leber einzutauschen. Jetzt bringt man sie nicht einmal mehr dazu, einen Arm für einen Fingernagel anzunehmen. Nur wenn Lebensgefahr vorliegt, gibt es eine Chance, daß irgend etwas unternommen wird. Manchmal ergattert man ein künstliches Organ auf dem Schwarzen Markt – die christlichen Lobbyisten tun allerdings ihr Möglichstes, um dem Einhalt zu gebieten –, aber Verlaß ist nicht darauf, und es schafft auch sowieso zu viele Probleme für den Patienten wie für den Arzt wegen der Abstoßungsgefahr und all dem. Ich fürchte, wenn an dem Körper Sabotage verübt worden ist, gibt es kaum etwas, das sich dagegen tun ließe.«
»Um so mehr Grund habe ich, mich heute nicht mehr untersuchen zu lassen. Aber
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