Alicia II
Zielscheibe machst, wenn du dort bleibst.«
»Ich wurde neugierig«, fuhr June fort. »Es war ziemlich leicht herauszufinden, wer sie ist. Alicia Reynal, Sozialarbeiterin et cetera. Sie ist ein hübsches Mädchen, Voss.«
June pries sie, als wolle sie eigentlich sagen, Alicia sei schön, sie selbst aber nicht. Ich hätte June gern versichert, sie sei hübsch, aber bestimmt würde sie dann auch den ungesprochenen Zusatz hören: allerdings nicht so hübsch wie Alicia. Statt dessen sagte ich: »Nun, ja, Alicia ist eine Freundin von mir. Ich kannte sie als Kind. Aber ich kenne sie nicht gut genug, daß ich sie bitten könnte, mich zu verstecken.«
»Ich weiß nicht, Voss«, meinte June.
»Warum sagen Sie das?«
»Ich weiß nicht. Es ist etwas in ihren Augen, wenn sie Sie ansieht. Und etwas in Ihren Augen, wenn Sie sie ansehen.«
Ich hätte beinahe laut herausgelacht. Ganz klar, June hatte uns nicht nur bemerkt, sie hatte uns einige Zeit beobachtet, uns nachspioniert. Dann hatte sie das, was sie sah, in Roman-Klischees übersetzt – ob aus Eifersucht oder aus Sentimentalität oder aus beiden Gründen –, und so war aus der sonderbaren kleinen Komödie, die meine Beziehung zu Alicia war, eine Liebesgeschichte geworden.
Ben deutete June mit einem Stirnrunzeln an, Stacy im Vorzimmer eine Tasse Kaffee zu geben, damit wir beide unter vier Augen miteinander reden konnten. June schien nicht ungern zu gehen. Stacy folgte ihr.
»Was ist denn so geheim?« fragte ich Ben.
»Es geht nicht so sehr um Geheimhaltung als um Vorsicht. Ich versuche, mir etwas auszudenken, wie ich dir helfen kann. Diese Killergruppen sind alle Fanatiker. Sie werden es immer wieder von neuem versuchen, und ich glaube nicht, daß es leicht sein wird, sie aufzuhalten.«
»Wenn ich eine Zeitlang unsichtbar bleibe, finden sie vielleicht neue Ziele.«
»Mag sein. Ich würde dir meine Wohnung anbieten, aber abgesehen davon, daß sie zu klein für jede Art von Zusammenleben ist, werde ich auch beobachtet. Ich weiß nicht, von wem, oder ob es gar Agenten von mehreren Seiten sind.«
»Warum beobachten sie dich?«
»Ich möchte nicht weiter darüber sprechen, aber es gibt Gründe. Jedenfalls wärst du bei mir möglicherweise in ebenso großer Gefahr. Aber vielleicht kann ich dir auf andere Weise helfen.«
»Wie?«
»Ich habe zu den Ausgemusterten im Untergrund … gewisse Verbindungen. Sie sind nicht besonders gut, aber sie könnten sich als nützlich erweisen. Wenn ich bis zu den richtigen Leuten durchdringe, kann ich vielleicht dafür sorgen, daß die Hunde zurückgepfiffen werden.«
»Unternimm nichts Gefährliches, nur um …«
»Warum nicht? Zum Teufel, warum nicht? Gottverdammt, Voss, du bist vielleicht ein Arschloch, daß ausgerechnet du einem anderen sagst, er solle nichts Gefährliches tun. Nimmst du vielleicht Anstoß daran, wenn ich mein Leben, meine Chance auf eine vierte Lebensspanne riskiere?«
»Nur weil ich …«
»Ach, halt den Mund. Junge, wenn Arschlöcher gestopft werden müßten, würdest du dein ganzes Geld für Korken ausgeben.«
Ich lachte, aber es war ein unbehagliches Lachen, und ebenso unbehaglich war das Schweigen, das darauf folgte. Ben kramte in Papieren auf seinem Schreibtisch herum. Schließlich sagte er: »Ich werde sehen, was ich tun kann. Vielleicht gar nichts. Also stell dich eine Zeitlang nicht so auffällig zur Schau. Geh jetzt. Im Gegensatz zu einer volkstümlichen Meinung habe ich noch ein bißchen Arbeit zu tun, bis ich für heute nach Hause gehen kann.«
Ich stand auf und hielt Ben die Hand hin.
»Es tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht – jedenfalls, danke.«
Ben sah meine Hand an, faßte sie aber nicht.
»Schon gut. Bleib in Verbindung. Ruf June ab und zu an, sie wird es mir ausrichten.
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