Alicia II
daß sie nur mit mir hatten reden wollen, vor allem, da nichts dabei herausgekommen war. Vielleicht wollten sie mich nur begutachten, mich auf irgendeine Art testen. Aber warum?
4
Ich hätte die Verabredung zum Dinner gern platzen und Pierre auf mich warten lassen, wie Alicia es so oft mit mir tat. Statt dessen traf ich Pierre in dem Café. Er stand sofort von seinem Tisch auf und führte mich zurück auf die Straße.
»Wohin gehen wir?« fragte ich ihn und versuchte, da er sich bemerkenswert schnell bewegte, an seiner Seite zu bleiben. Es war erstaunlich, welche Strecke er mit jedem Schritt seiner kurzen Beine zurücklegte.
»Ich habe ein Privatzimmer im L’Etre reservieren lassen, dem einzigen wirklich feinen Restaurant, das auf diesem Kontinent übriggeblieben ist. L’Etre ist exquisit, kommt aber an bestimmte Konkurrenten jenseits des Meeres nicht heran.«
Das L’Etre war gut versteckt. Angesichts der Fassade des elenden Gebäudes, in dem sich das Restaurant befand, hätte niemand vermutet, daß sich dahinter ein Beispiel für vornehme Gastlichkeit verbarg. Das Haus stand in einem alten Teil der Stadt, einem kaum noch bewohnten Viertel. Die Gebäude waren im alten Stil erbaut, die Straßen waren gerade und schnitten sich rechtwinklig, und ich erinnerte mich des Eindrucks, den Cleveland vor vielen Jahren auf mich gemacht hatte.
Pierre hatte einen Hausschlüssel, einen beigefarbenen Schlüssel, dessen Griff mit purpurnem Samt bezogen war.
Drinnen gingen wir durch einen dunklen, muffigen Vorraum zu einem Aufzug, neben dem ein Mann in bedenklicher Haltung auf einem hohen Schemel schlief. Wir weckten den Fahrstuhlführer, der sich gar nicht zu freuen schien, uns zu sehen, und überredeten ihn, uns zum vierten Stock hinaufzubringen. Die Türen öffneten sich auf einen Anblick so überraschender Eleganz, daß mir die Augen, geblendet von dem Gegensatz zu der Welt draußen, schmerzten. Und dabei war die Einrichtung in weichen, dunklen Farben gehalten, und die Beleuchtung war gedämpft. Historisch aussehende Möbel waren geschmackvoll aufgestellt. Die wenigen Tische waren mit Tüchern in sattem Kastanienbraun gedeckt. Die Bilder an den Wänden zeigten den Stil der Renaissance, oder vielleicht – auf dem Schwarzen Markt gab es eine große Zahl authentischer Kunstwerke zu kaufen – waren es auch echte Renaissance-Gemälde.
Ein vorschriftsmäßig gekleideter Maitre d’hotel, der Pierre offensichtlich wiedererkannte, kam auf uns zu und begrüßte uns herzlich. Pierre stellte mich vor. Der Mann musterte mich, billigte, was er sah, und begrüßte mich sodann mit ebensoviel Überschwang. Er sagte, unser Zimmer sei bereit, und führte uns durch den Hauptspeisesaal des Restaurants. Ich versuchte, nicht so von der eigenen Wichtigkeit überzeugt dreinzublicken wie Pierre und der Maitre d’hotel.
Unser privates Speisezimmer war eine kleinere Ausgabe des großen. Die beiden Bilder an den stoffbespannten Wänden stammten aus einer viel späteren Zeit. Eins stellte Badende an einem Strand um 1900 dar. Sie trugen gestreifte Badeanzüge mit Volants, die den Körper fast ganz bedeckten. Das Bild entsprach der Atmosphäre im L’Etre. Ihm gegenüber hing das Porträt eines Dandys in sehr dunklen Farben. Obwohl der Mann etwas Hochmütiges an sich hatte, als stelle er unser Recht, im gleichen Raum mit ihm zu speisen, in Frage, war er ein repräsentativer Vertreter der Kundschaft.
Wir setzten uns, und ich stellte fest, daß der angenehme Geruch im Raum von den roten und gelben Blumen auf unserm Tisch kam. Sie standen in einer griechisch dekorierten Vase, über deren Rundung spärlich bekleidete Leute einander nachjagten. Blumen waren eine kostspielige Seltenheit. Auf der ganzen Welt durften sie nur mit besonderer Genehmigung in Gewächshäusern mit Elementenkontrolle angebaut werden.
Ich fragte mich, wie die Direktion des Restaurants es sich erlauben konnte, uns Blumen hinzustellen und uns trotzdem noch zu füttern. Es tat mir leid, daß ich nicht wußte, was für Blumen es waren. Das erwähnte ich Pierre gegenüber, doch er roch nur kurz an ihnen und erklärte dann, er habe nie viel um Blumen gegeben. Der Gedanke an ihren Preis führte mich zu der Frage, wieviel Pierre für die Mahlzeit werde bezahlen müssen.
»Was ist all den Ersterneuerten zugestoßen?« erkundigte ich mich, während Pierre beim Kellner ein exquisites Essen bestellte.
»Sie hatten ein sehr unterschiedliches Schicksal. Bei einigen war
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