Alien 1: Vierhundert Milliarden Sterne
führte Dorthy zu einem
flachen Hohlweg. Sie duckten sich hinein und sahen zu, wie der Himmel
sich verdunkelte. Mit der Zeit wurde Dorthy ruhiger. Ihr fiel ein,
daß sie ihren Seesack im Haus liegengelassen hatte. Es war
nichts darin, das sie unbedingt brauchte. Dieser Teil ihres Lebens
war jetzt vorüber.
Um sie herum brummten, summten und zirpten Insekten. Dorthy
versuchte vergeblich, ihr TALENT weit zu öffnen, und
wünschte, sie hätte ihre Antiblocker mitgenommen. Hiroko
erzählte ihr alles über die Ranch und ihres Vaters
Hoffnungen, ein japanisches Kulturzentrum am Ort einzurichten –
was an der völligen Gleichgültigkeit und Trägheit der
Gammler und Tagediebe, alles Freunde von Onkel Mishio, scheiterte.
Sie schmarotzten sich lediglich auf seine Kosten durchs Leben.
»Nachdem Mutter tot war, hat er sich aufgegeben«, sagte
Hiroko. »Er ließ die Ackergeräte verrotten und die
Saat verdorren. Die Viehherde wurde immer kleiner. Auch die
Solaranlage arbeitet nicht, aber er kümmert sich nicht darum.
Selbst die Sache mit Onkel Mishio und mir ist ihm egal.«
Sie begann zu weinen. Dorthy drückte sie an sich und
streichelte sie. »Ich werde einen Ort finden, an dem wir leben
können. Ich habe noch etwas Geld gespart. O Hiroko, welch eine
Heimkehr!«
Die Sterne hingen sanft schimmernd am lauen Nachthimmel, als sie
in Richtung Stadt aufbrachen. Einmal erfaßte Dorthy eine Gruppe
von Männern, die sich ihnen näherte. Aber die Burschen
suchten ziemlich laut und halbherzig nach ihnen, so daß es
leicht war, der Horde auszuweichen. Während des
Fußmarsches erzählte Dorthy Hiroko vom Institut und ihren
Plänen, Astronomie zu studieren.
»Das ist der Grund, wieso du verstehen kannst. Wieso du
verstehen mußt!«
Das war nicht Hirokos Stimme – überhaupt keine
menschliche Stimme.
Dorthy blieb stehen. Die schemenhafte Gestalt neben ihr war zu
groß für ihre Schwester, aber in der Dunkelheit konnte sie
nicht erkennen, wer oder was sie war. Der Schatten sagte: »Hab
keine Angst«, und deutete zu den kalten, glitzernden Schwaden
interstellarer Staubwolken hinauf, die den Himmel in ein Leichentuch
zu verwandeln schienen, hinauf zu dem großen Zwischenraum, in
dem ein einzelner Stern hell leuchtete – so hell, daß sein
Licht ihre Körper Schatten werfen ließ, die hinter ihnen
miteinander verschmolzen.
»Dorthin führte uns unser Weg zuerst«, sagte die
Gestalt, »auf unserer Suche nach Sternen wie dem unsern –
mitten hinein.«
Und für einen Augenblick hatte Dorthy das schwindelerregende
Gefühl, sie stürze kopfüber in diesen Himmel.
Die Welt kehrte bruchstückweise zu Dorthy zurück. Sie
lag in einer Art Laube auf dem Rücken, die in den dichten,
schlingpflanzenartigen Bewuchs hineingeschlagen worden war. Über
ihr drang ein schwacher Schimmer zwischen knolligen Baumstämmen
bis zum Boden durch, wurde immer wieder von lichtem Blattwerk
gebrochen, war mehr Schatten als Licht. Andrews lag ein wenig abseits
von ihr. Er atmete langsam und gleichmäßig, hatte einen
Arm über das Gesicht gelegt. Sie konnte das Muster seiner
Träume erfassen: Ihr TALENT war also immer noch aktiv. Sie sah
auf ihren Zeitmesser und stellte fest, daß inzwischen erst eine
Stunde vergangen war.
Sie befeuchtete ihren Mund mit einem Schluck schal schmeckenden
Wassers aus ihrem Spender, legte sich wieder zurück und dachte
über ihren Traum nach. In einem Winkel ihres Bewußtseins
wanderte sie immer noch an der Seite ihrer Schwester durch die warme
australische Nacht auf die Stadt zu. Sie hatte für Hiroko ein
Apartment in Melbourne gemietet und ihr ein Bankkonto eingerichtet.
Das Mädchen hatte hartnäckig behauptet, es ginge ihr gut,
und sie könne für sich selbst sorgen. Nur widerstrebend war
Dorthy nach Rio gereist, um ihren ersten Vertrag als freiberufliches
TALENT unter Dach und Fach zu bringen. Woche für Woche hatte sie
Hiroko Geld geschickt, doch ihre Schwester war nie zu Hause, wenn sie
sie anrief. Während dieser drei Monate in Groß-Brasilien
war Dorthys Besorgnis stetig gewachsen, aber sie konnte diesen ersten
Job nicht einfach so hinwerfen. Sie brauchte das Geld. Sie hatte
Hiroko nur die halbe Wahrheit gesagt. Die Kosten für die
Einrichtung des Apartments hatte den kümmerlichen Rest ihrer
Ersparnisse verschlungen. Alles andere hatte ihr Vater
durchgebracht.
Als Dorthy schließlich nach Melbourne zurückkehrte, war
Hiroko verschwunden. Wie es schien, hatte sie eine Woche nach Dorthys
Abreise in Richtung Rio die Stadt
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