Alien 2: Verborgene Harmonien
nicht ahnen, daß ihre letzte Minute angebrochen
ist – weil er es so will. Ein paar wenigstens sollen
für all dies bezahlen.
Die letzte Ziffer nennt er laut. Null!
Nichts geschieht. Das hohe weiße Gebäude ragt weiterhin
aus dem Rauch über der umkämpften Stadt. Blinde Wut wallt
in Savory auf. Er reißt das Gelenkband vom Arm und schleudert
den Compsim in die Tiefe. Dieser verdammte Ingenieur. Er hätte
einem Intellektuellen niemals diesen Auftrag überlassen
dürfen. Nach ein paar Augenblicken hat er sich wieder unter
Kontrolle. Er wendet sich dem Captain zu. »Dann muß unser
Haus eben für die nachfolgenden Generationen stehenbleiben. Es
wird Zeit. Gehen wir.«
Obwohl Rydell ein getreuer Konstitutionalist ist, weiß er
nichts von der kleinen Flotte, die den Hafen verläßt und
durch die Gezeitenmündung auf das offene Meer hinausfährt.
Auf den Schiffen befinden sich die Mitglieder der Stadtregierung und
ihre engsten Vertrauten, ein Dutzend Polizeieinheiten und die
Familien aller. Sie beginnen die lange Reise über Land und See
zur nördlichen Küste des Kontinents. Sie überlassen
die Stadt ihrem Schicksal, um selbst der Rache der Insurgenten zu
entgehen. Dort, inmitten des allgemeinen Niedergangs, ist Rydell
verwundet worden. Die Wunde in seinem Oberarm, wo Steinsplitter bis
zum Knochen durchgedrungen sind, klopft dumpf, Blut sickert durch den
provisorisch gelegten Verband. Rydell ist mit knapper Not dem
Hinterhalt entkommen und sitzt jetzt mit einer Gruppe von Polizisten
und FVS-Soldaten in den Ruinen eines Lagerhauses fest. Bei jedem der
seltenen Schüsse, die die Gruppe in dem Lagerhaus festnageln,
flucht der Polizeisergeant, der ihm zugeteilt ist. Ihre Compsims
arbeiten nicht, das Informationsnetz ist zusammengebrochen, Constat
schweigt. Die Rückseite des Lagerhauses steht in Flammen, der
Rauch und das Krachen des Feuers versetzen die anderen
allmählich in Panik. Im nächsten Moment wird Rydell sagen:
»Was zur Hölle soll’s?« und mit einem
weißen Stück Papier winken, um dem Gegner anzuzeigen,
daß sie sich ergeben.
Die Insurgenten werden ihre Gefangenen entwaffnen und sie laufen
lassen, damit sie sich selbst nach Arcadia durchschlagen, wo, nachdem
sie den Arm eines FVS-Offiziers verbunden hat, Lena ihre Arbeit
für eine kurze Pause unterbricht. Den ganzen Tag hat sie in der
stinkenden, abgestandenen Luft des Hospitalzeltes gearbeitet. Jetzt
lehnt sie an einem Zeltpfosten, läßt die frische Luft den
Schweiß auf ihrer Haut trocknen und schaut über das Lager.
Die Dunkelheit bricht herein. Lenas Beine und Rücken schmerzen,
ihre Kleider sind fleckig von getrocknetem Blut. Mehrere hundert
verwundete Männer und Frauen, Insurgenten, Cops und
FVS-Soldaten, hocken vor dem Hospitalzelt. Lena fühlt sich so,
als hätte sie sich um jeden einzelnen von ihnen selbst
gekümmert. Sie liegen auf Zeltplanen oder sitzen auf dem kalten
Boden. Die meisten schweigen. Ihre Lagerfeuer flackern wie
Sternennebel. Lena denkt an den Mann, den sie gerade verarztet hat.
Er kann von Glück reden, wenn er seinen Arm behält. Der
Verband war viel zu lange zu fest gebunden. Dann fragt sie sich
erneut, wo Rick sein mag. In ihrem Bauch nagt die Furcht. Sie ist zu
erschöpft, um dagegen anzukämpfen. Sie denkt an ihren Vater
und die anderen vom Chronus-Quartett, an Web, an Jon… An alle
denkt sie und fragt sich erneut, wann Rick wohl zurückkommt. Er
hatte so starrköpfig an seinem Vorhaben festgehalten, und nun
hat sie Angst, daß er vielleicht zu viel riskiert hat. Bewahre
die Ruhe, und dir geht es gut, hatte er ihr einmal gesagt. Damals
hatte sie ihn für ziemlich naiv gehalten.
Sie erschauert. Jemand geht über ihr zukünftiges Grab,
und plötzlich kommt ihr die Idee für das Adagio, um das sie
ihre Erste Symphonie aufbauen wird. Leise Bläser, zwei Themen
andeutend, die die Geigen aufnehmen, sie zusammenführen und
vermischen und wieder trennen – wie das Häuflein Elend hier
vorm Zelt, Sieger und Besiegte ohne Unterschied. Ein langsames
Crescendo aus dem Zeitrhythmus des Doppelthemas – der langsame
Zerfall der Stadt – mit einigen Anklängen an Beethovens
Fünfte, abebbend in einigen wenigen schwankenden Akkorden, einer
nach dem anderen verklingend – die Lagerfeuer, die brennende
Stadt. Der Treck der Flüchtlinge und Heimatlosen, der sich in
den Outback hinauswindet. Und zum Schluß, mit dem letzten
Akkord, das gemeinschaftliche Summen der Bewohner eines
Abo-Dorfes.
Für einen Augenblick blüht all dies
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