Alissa 1 - Die erste Wahrheit
um seine Stuhllehne herum, um sie anzusehen. »Ihr beide kennt die Geschichte von Ese’ Nawoer?«
»Ese’ Nawoer?«, flüsterte Alissa und sprach den fremdartigen Namen langsam und sorgfältig aus. »Die Stadt hat es tatsächlich gegeben? Das ist nicht nur eine Geschichte?«
Bailic lächelte geduldig. »Selbstverständlich hat es sie gegeben. Es gibt sie immer noch – wenn man so will. Nur selten findet man Geschichten, die nicht zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten. Habt Ihr die Stadt mit den hohen Mauern auf Eurem Weg hierher nicht gesehen? Sie liegt nur eine viertel Tagesreise von der Feste entfernt. In den Geschichtsbüchern heißt es –«
»Ihr meint in den Geschichten«, unterbrach ihn Strell, und Bailics Augen wurden kaum merklich schmaler.
»Nein. In den Geschichtsbüchern.« Bailic erhob sich und stellte sich vor das Feuer, von wo aus er sie beide sehen konnte. »Ihr habt die Stadt wirklich nicht gefunden? Es heißt, von der Spitze des Turms aus könne man die Mauern sehen.« Er zögerte, und sein Blick schien in die Ferne zu rücken. »Wenn der Himmel klar ist.«
»Strell hat eine Abkürzung genommen«, murmelte Alissa kaum hörbar. Sie spürte ein Kribbeln der Erregung. Ese’ Nawoer, dachte sie. Das also bedeutete das geheimnisvolle Zeichen auf der Karte ihres Vaters. Es ging um eine verlassene Stadt, genau wie in der Geschichte ihres Papas, und sie hieß Ese’ Nawoer.
Bailics düstere Miene hellte sich auf, zu einem Ausdruck, den Alissa für unheimliche Schärfe hielt. »Die Geschichte, wie die Stadt Ese’ Nawoer zu ihren Mauern kam, ist mir wohlbekannt, aber Ihr« – er zeigte mit dem Finger auf Strell – »habt den interessantesten Teil ausgelassen.«
Alissa runzelte die Stirn und ärgerte sich, dass er an der ihrer Meinung nach wundervollen Erzählung etwas auszusetzen fand.
»Eure Miene sagt mir, dass Ihr meine Ansicht nicht teilt.« Bailic war ganz honigsüße Freundlichkeit, als er kicherte und dann mit spöttischem Lächeln fortfuhr: »Es sollte Euch nicht überraschen. Die meisten Menschen scheuen sich, kleinen Mädchen die volle Wahrheit zu sagen.«
Letzteres klang furchtbar überheblich, und Alissa bemühte sich, ihren Ärger zu verbergen. Er zögerte und legte dann die Fingerspitzen aneinander, eine erschreckende Nachahmung ihres Papas. Sie wartete ab und rechnete damit, dass Bailic sie weiter verhöhnen würde. Sosehr er seine Worte auch in Höflichkeit kleidete, genoss er es doch, sie herabzusetzen, und sie gütigerweise an seinem Wissen teilhaben zu lassen gab ihm anscheinend ein Gefühl der Überlegenheit. Er lächelte wohlwollend, trat zu Alissa und setzte sich auf einen der harten Stühle. Kralle protestierte mit einem kurzen Fauchen, und am Kamin rutschte Strell unruhig hin und her. Alissa und er wechselten einen besorgten Blick.
»Ich werde Euch den Rest erzählen«, flüsterte Bailic ihr ins Ohr, und im Schatten des Feuers schienen seine blassen Augenbrauen beinahe zu verschwinden. »Nicht, weil Ihr es verdient hättet, sondern weil es mir eine Freude ist, wenn Ihr wisst, wie sich die Welt verändern wird, um meinen Wünschen nachzukommen.«
Seinen Wünschen nachzukommen?, überlegte Alissa verwundert und hob den Blick. Bailic sah ihr in die Augen, und die Kraft seines Willens traf sie wie ein Schlag. Sie holte verängstigt Luft und war entsetzt, als sie mit dem Wahnsinn in seinem Kopf konfrontiert wurde. Dies war der Mann, der ihren Papa ermordet hatte, der die Feste zerstört und allen den Tod gebracht hatte, die ihren Platz darin gehabt hatten. Wenn er erriet, wer sie war, würde er sie benutzen wie schon so viele vor ihr und dann einfach wegwerfen, wenn er sie nicht mehr brauchte. Sie konnte ihn nicht aufhalten, wenn er es erst herausgefunden hatte. Aschfahl saß sie da und fühlte nur noch eines: Angst.
Vom Kamin her hörte sie ein raues Scharren, als Strell aufstand. Kralle begann nun bedrohlich zu zischen. Alissas Blick schoss zu Strell und wieder zurück. Erneut begegnete sie Bailics Blick, und er lächelte gekünstelt, ohne sich darum zu scheren, dass Strell weiß vor Zorn war. »Gut«, sagte Bailic und lehnte sich zurück. Beiläufig warf er einen herablassenden Blick auf Strell. »Ich sehe, wir verstehen uns.«
Wieder beugte er sich vor, und Alissa konnte nicht anders, sie zuckte zurück. »Dann wisset Folgendes«, fuhr er fort. »In den Büchern steht geschrieben, dass die Seelen von Ese’ Nawoer verpflichtet sind, sich zu erheben und ihre
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