Alissa 1 - Die erste Wahrheit
andere meinen, sie wanderten durch die Wildnis des Hügellands, und wieder andere sagen, sie seien durch die Sümpfe der Küste gewatet, doch alle sind sich einig, dass Amaa sie in den Tod führte.
Zu ihrem Entsetzen fand Amaa die Stadt ihrer Kindheit von hohen Mauern umgeben, und Freunde bewachten das Tor. Die Füße schmutzig von dem langen Weg, die Arme müde von der Last ihrer Kinder, flehte Amaa ihren Stadtvogt an: ›Lasst mich ein. Wir sind nicht krank. Nehmt meine Kinder auf. Sie können Euch kein Leid tun.‹ Doch sie flehte vergebens. Die Tore blieben ihnen verschlossen – ihre Schreie ungehört. Zu seiner eigenen Scham ließ der Vogt sich nicht erweichen. Er glaubte, keine Wahl zu haben, und hielt an seinem Glauben fest.
Ein Heulen und Klagen erhob sich zu beiden Seiten der Mauer, als der Wahnsinn über jene kam, die sich draußen versammelt hatten, als die Saat der Krankheit, die sie in sich trugen, schließlich heranreifte und ihnen den Tod brachte. Amaa weinte, während sie ihre Kinder ermordete, und flehte weiter um Gnade, bis sie sich selbst richtete.
Das stolze Volk kauerte hinter seiner Mauer und wartete ab, bis die Zeit sie von der Gefahr befreite. Doch nachdem die jämmerlichen Schreie und Klagen der Kinder und Frauen in der Vergangenheit versunken waren, drohte der Stadt neue Gefahr. Die Krankheit, die in den umgebenden Landstrichen gewütet hatte, hinterließ eine Welt, die zwei Drittel ihrer Bevölkerung verloren hatte. Die Überlebenden suchten nach jemandem, dem sie die Schuld dafür geben konnten. Die Stadt mit ihren hohen Mauern hatte keine Toten zu beklagen. Und so befanden die Überlebenden, dass sie bestraft werden musste.
Tausende Männer, gepeinigt von Trauer, fielen in das prächtige Land ein und fanden einen Anführer, der die Einzelnen in ihrem Schmerz zusammenführte. Die Küste nennt ihn Bewren, das Hügelland Beweren, das Tiefland sagt schlicht Bren, doch alle nennen ihn den Betrogenen, der vor der Stadt stand, die er einmal seine Heimat genannt hatte, wo er das Blut seiner Frau und seiner Kinder vor dem Tor und seinen Freund sicher dahinter fand.
Bren lagerte vor der Stadt, und während er reglos zusah, rammten seine Männer die Tore mit dem Brennholzvorrat der kommenden Generation. Monatelang untermalten die Trommeln das Trampeln schwerer Stiefel und das Hämmern an den Toren. Doch die Mauer blieb stehen, und die Tore gaben nicht nach.
Die Zeit verstrich, und der Kummer der Überlebenden begann zu heilen. Sie erkannten, welch ein Irrsinn es war, ihren Schmerz mildern zu wollen, indem sie ihn einem anderen zufügten, und zogen ab, wie sie gekommen waren. Sie verließen die unberührte Stadt und kehrten in die Ebene, in die Hügel und an die Küste zurück. Nur Bren harrte aus, ein zerlumpter Mann, gebrochen an Geist und Verstand.
Bren weinte und schlug mit den Fäusten gegen die verschlossenen Tore und hielt eine gesamte Stadt allein mit seinen Worten gefangen. ›Stadtvogt!‹, schrie er und erfüllte den Himmel mit dem Ruf seiner Trauer. ›Warum habt Ihr mich ausgeschlossen? Warum habt Ihr meine Amaa getötet?«
Und der Vogt antwortete von seiner Mauer herab: ›Bren, mein Freund, weshalb hast du meine Stadt belagert? Ich muss mein Volk schützen. Ich bin ihr Diener. Ich habe keine andere Wahl.‹
›Es gibt immer eine Wahl!‹, schrie Bren empor. ›Und ich bin mit dem Blut jener befleckt, die auf meinen Schutz vertrauten.‹ Steif hob Bren die Arme gen Himmel. ›Ich nehme diese Schuld nicht auf mich! Ich treffe die Wahl , die Verantwortung für den Tod Amaas und unserer Kinder nicht selbst zu tragen. Hört Ihr mich, Stadtvogt! Ich gebe Euch und allen, die sich hinter dieser Mauer der Scham und Angst verkriechen, meine Schuld!‹
Die Luft erzitterte, erschüttert von einer Kraft so tief in der Erde, dass man sie nur spüren konnte, und Bren stand da wie aus Stein gemeißelt. ›Ihr!‹, sagte Bren, und ein schwarzer Schimmer wie von Ebenholz umhüllte seine erhobenen Fäuste. ›Ihr seid verflucht in alle Ewigkeit, und solltet Ihr tausend Jahre leben, Stadtvogt. Meine Pein und Scham sind meine Gaben für Euch, und Ihr sollt nicht ruhen, bis Ihr und Eure Leute Euch als Volk dieses Namens würdig erwiesen habt!‹
Brens erhobene Hände wurden von einer Dunkelheit verschluckt, die nicht einmal die Sonne durchdringen konnte. Ein wilder Schrei der Wut entrang sich ihm, und als er am lautesten gegen die Mauer schallte, explodierte die Schwärze um seine Hände und
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