Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Papa ihn einst gemocht hatte. Es war beängstigend einfach, zu vergessen, wer er war.
Als Alissa die Reste der Bratäpfel abräumte, stand Strell auf, reckte sich und ließ sich vor dem Kamin nieder, sein üblicher Platz für die abendliche Unterhaltung. Eine düstere Melodie entstieg seiner Flöte, um die Stimmung des Abends einzuleiten, und Alissa blies die Kerzen aus, um die Atmosphäre zu fördern; nur das Feuer erhellte nun den Raum. Bailic ging zu dem unbequem aussehenden, hochlehnigen Stuhl, der an ihrem zweiten Abend kommentarlos vor dem Kamin erschienen war, und ließ sich darauf nieder. Alissa machte es sich an ihrem üblichen Platz am Tisch gemütlich und beschäftigte sich damit, ein Loch in ihrem Strumpf zu stopfen. Strell hatte zwar gesagt, sie solle ihm bei der abendlichen Unterhaltung helfen, doch er hatte nie darauf bestanden, wofür sie ihm ebenfalls dankbar war.
Fauchend fiel ein Ast in die Kohlen, und die Funken umgaben Strells Gestalt mit einem unheimlichen Schimmer. Bis auf seine Musik war alles still, beinahe, als lauschten die Mauern selbst. Kralle verließ den Kaminsims, um sich auf Alissas Lehne niederzulassen. Von ihrem Platz aus konnte Alissa lediglich Bailics Füße unter dessen Stuhl erkennen. Sie stellte sich vor, er sei gar nicht da und Strell spiele nur für sie.
Es war stets eine Freude, Strell spielen zu hören, dachte Alissa, während seine Musik ihre leichte Anspannung löste. Seine ganze Haltung veränderte sich, wenn er sich auf den emotionalen Kontext seiner Kunst einließ. Und Kunst war es, ob er flötete oder eine Geschichte erzählte. Nicht was, sondern wie er erzählte, machte den Unterschied. Er fügte Einzelheiten hinzu und erzählte so gefühlvoll, dass eine Geschichte, die sie schon ihr Leben lang kannte, auf einmal zu etwas wurde, das nach wahren Ereignissen einer vergessenen Historie klang.
Er ließ die unheimliche Melodie verklingen, atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien er ein anderer Mensch geworden zu sein, älter und von Gram gezeichnet, halb zusammengesunken und an den Kaminsims gelehnt, als sei er der Welt müde. Sein Blick schien in die Vergangenheit gerichtet, als er zu sprechen begann.
»Weit, weit in der Vergangenheit, so weit zurück, dass selbst die Erinnerung an seinen einst so stolzen Namen längst verloren ist, lebte ein weises und fröhliches Volk. Diese Menschen wohnten abseits der übrigen Welt in einer großen Stadt, die alles bot, was sie sich wünschten. Bis heute kann niemand erraten, ob sie einst in den Hügeln, in der Ebene oder vielleicht gar an der Küste lebten. Doch es ist gleich, woher sie gekommen sein mögen, denn sie traten aus der Zeit heraus und verschwanden unter dem Schleier des Geheimnisvollen. Von diesem Volk will ich Euch erzählen, und von einer großen Schlacht, welche die Bewohner dieser Stadt nicht geschlagen haben; stattdessen harrten sie aus, während ein so gewaltiger Krieg tobte, dass die Erinnerung daran überdauerte, während ihr Name in Vergessenheit geriet. Sie glaubten, keine Wahl zu haben, und hielten an ihrem Glauben fest.
Nun begab es sich, dass eine Krankheit das Land heimsuchte. Keine Krankheit des Fleisches, sondern des Geistes, die allen, die sie berührte, Verstand und Vernunft raubte. Sie brachte ein schreckliches Blutvergießen über das Tiefland, das Hügelland und an die Küste. Die Menschen wurden zu wilden Tieren und fielen in ihrer Raserei übereinander her; nur wenige blieben davon verschont. Und jene, die überlebten, konnten nicht sagen, warum – sie spürten nur, dass ihr Geist wie im Fieber brannte und der verlockende Gedanke an Mord und Totschlag ihnen den Schlaf raubte. Umnachtung und Tod waren ihnen willkommen.
Nur eine Gruppe von Menschen verschonte diese Seuche des Wahnsinns, falls man so sagen kann. Als sie von der Krankheit erfuhren und davon, dass es zwecklos war, sie zu bekämpfen, beriet sich ihr geliebter Vogt mit seiner besten Shaduf und errichtete eine gewaltige Mauer um seine Stadt, um sie vor der Krankheit zu schützen. Manche sagen, sie sei aus Erde aus dem Tiefland erbaut, andere sagen, aus Stein aus den Bergen, und wieder andere meinen, sie sei aus Holz von der Küste gewesen, doch alle sind sich einig, dass sie mächtig und hoch war.
Als man andernorts davon erfuhr, nahmen viele junge Mütter die beschwerliche Reise auf sich, weil sie glaubten, dort Zuflucht zu finden. Einige sagen, sie zogen über die Dünen des Tieflands,
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