Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Schuld einzulösen, indem sie demjenigen zu Diensten sind, der sie in ihrer ewigen Rastlosigkeit anruft. Wenn ich erlangt habe, was ich brauche, werde ich Anspruch auf sie erheben. Sie werden meine ersten Diener sein, diejenigen, die ich benutzen werde, um eine neue Ordnung zu schaffen.« Kaum hörbar, drangen seine Worte wie ein Seufzen an ihr Ohr. »Meine Ordnung.« Langsam lehnte er sich zurück, und sie begann wieder zu atmen. »Die Seelen der verlassenen Stadt werden das Hügelland und die Ebene meinem Willen unterwerfen. Falls das nicht gelingt, werden sie die Seuche des Wahnsinns erneut verbreiten. Denkt einmal darüber nach, meine Liebe, und überlegt Euch, auf welcher Seite Ihr dann stehen möchtet.« Er erhob sich lautlos und ohne den Falken aus den Augen zu lassen. »Das war eine hervorragende Erzählung, Pfeifer. Sehr erhellend.« Und mit dem Flüstern weicher Schuhsohlen war er verschwunden.
Wie betäubt starrte Alissa auf Bailics leeren Stuhl. Eine neue Ordnung schaffen, dachte sie. Sobald er erlangt hatte, was er brauchte? Bailic wollte den empfindlichen Frieden zwischen Hoch- und Tiefland brechen. Und nun wusste sie, warum er sie nicht in den Schnee hinausgeworfen hatte. Er hatte ihren Papa ermordet, um an das Buch der Ersten Wahrheit zu kommen. Das musste er gemeint haben, als er sagte, »wenn ich erlangt habe, was ich brauche«. Bein und Asche, hätte sie beinahe laut gestöhnt. Es war genau so, wie sie befürchtet hatte. Bailic wusste, dass sie danach suchten.
»Was bei den Hunden hat er denn heute Abend?«, fragte Strell barsch, verließ den Kamin und blieb neben ihr stehen.
»Begreifst du denn nicht, Strell?«, erwiderte Alissa. »Er erwartet, dass wir das Buch meines Papas für ihn finden.« Kläglich blickte sie zu ihm auf. »Und falls er es merken sollte, wenn ich es gefunden habe, wird er es mir wegnehmen.«
Strells Blick glitt zu dem schwarzen Durchgang zur großen Halle. »Psst«, flüsterte er warnend. »Er könnte noch hinter der Tür stehen.«
Alissa presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie blickte zu Kralle auf, die zufrieden auf ihrer Stuhllehne hockte und sich das Gefieder putzte. Der kluge Vogel spürte stets, wenn Bailic in Hörweite war. Auf ihrer Suche in der Feste hatte Kralle sie schon mehrmals gewarnt, wenn er ihnen nachschnüffelte. Er hatte immer eine Ausrede parat, wenn sie dann umkehrten, um ihn zu stellen, doch es war ausgesprochen offensichtlich, dass er ihnen hinterherspionierte. Inzwischen hatte er es aufgegeben – oder die Reichweite von Kralles besonderem Spürsinn erkannt.
»Aber er hat gesagt, er wolle die Geister dazu benutzen«, erklärte Strell und ließ sich auf dem Stuhl nieder, den Bailic gerade verlassen hatte. »Die Geister in dieser Stadt. Wie hat er sie genannt?« Er rollte mit den Schultern, um seine Angst zu überspielen.
»Ese’ Nawoer.« Alissa zupfte nervös an ihrem Flickwerk herum. »Ich glaube, er braucht das Buch, um sie sich zu Diensten zu machen, und wir sitzen nur deshalb nicht schon längst wieder im Schnee, weil er nicht weiß, wer von uns beiden es finden kann.«
Strell schwieg. Er wich ihrem Blick aus, stand auf und trat an den Kamin. Langsam verschwanden die hellen Flammen unter der Asche. »Warum hat er uns dann nicht einfach mit einem Bann belegt und danach gefragt?«
Alissa sammelte ihr Nähzeug ein, um sich von ihrer furchtbaren Angst abzulenken. Strell wartete, bis sie eine Kerze entzündet hatte, ehe er sorgfaltig die letzte Schaufel Asche auf die Glut kippte. Die Kerzenflamme zitterte, weil Alissas Hand das auch tat, und sie verabscheute sich dafür. Im Halbdunkel blickte sie flüchtig zu Strell auf. »Ich weiß es nicht. Aber ich gehe nicht ohne mein Buch. Und Bailic wird es mir wegnehmen, sobald ich es gefunden habe.«
»Wir sind Bailic nicht gewachsen«, sagte Strell sanft. Seine Miene wurde säuerlich, und er seufzte. Es klang resigniert. »Nicht, wenn er all diese Bewahrer getötet hat. Wir müssen eine Möglichkeit finden, diese Tür zu öffnen und Nutzlos zu befreien.« Der Schürhaken klapperte, als er die Schaufel wieder danebenhängte, und er richtete sich mit frustriertem Blick auf.
Nutzlos, grübelte Alissa. Was nützte der ihnen schon? Stirnrunzelnd stand sie auf und folgte Strell in die Küche, wo der Abwasch auf sie wartete. Das Geschirr war bereits im Spülbecken gestapelt, und sie lächelte dankbar, als Strell rücksichtsvoll das Becken wärmte, indem er einen Teil des heißen
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