Alissa 1 - Die erste Wahrheit
die Flügel aus.
Strell rutschte in seinem Sessel herum und blickte von Kralle auf die Flöte in seinen Händen. »Damit kann ich die niedrigen Töne nicht spielen«, sagte er, stand auf und zog die Flöte seines Großvaters hinter sich hervor, die er unter den Kissen versteckt hatte. »Dafür muss ich diese hier nehmen.«
»Bekommst du davon nicht Kopfschmerzen?«, neckte sie ihn.
»Ein Stück wird schon nicht schaden«, erwiderte er verlegen. Einige Takte von »Taykells Abenteuer« trieben durch die Luft, als Strell das Holz anwärmte, und Alissa lächelte bei der Erinnerung daran, wie sie ihn zum ersten Mal dieses Lied hatte spielen hören. Er hielt inne, und sobald er sich vergewissert hatte, dass alles bereit war, begann er zu spielen.
Die ätherische Melodie stieg auf, schlicht und klar, unverdorben und frei von der Unsicherheit des vergangenen Tages. Mit einem gemächlichen Lächeln erlaubte Alissa sich, die Augen zu schließen. Die Musik schien das innerste Wesen der Berge einzufangen. Es war beinahe zu einfach, sich den klaren herbstlichen Himmel vorzustellen, fahl und wie ausgebleicht von der erbarmungslosen Hitze des Sommers. Sie kuschelte sich tiefer in ihren Sessel, und die glatten, abgewetzten Polster und Kissen brachten ihr die Erinnerung an die seidige Liebkosung einer späten Herbstbrise, die feucht vom nahenden Regen kündete.
Meisterlich und aus vollem Herzen spielte Strell, und Alissa ließ die Musik sie durchdringen und all die Angst und die Zweifel auslöschen, die Bailic ihr eingeflößt hatte. Strell hielt den letzten Ton so lange wie möglich, und sie öffnete schläfrig die Augen, als er verklang. »Das war wunderschön«, seufzte sie, dem Schlaf schon zu nah, um mehr zu sagen. Strells Musik lullte sie oft so ein, dass sie den beinahe unwiderstehlichen Drang verspürte zu schlafen.
Strell gab nur sein ausdrucksvolles Brummen von sich, doch sie hörte ihm an, dass er sich freute. »Gute Nacht, Alissa«, sagte er und stand auf.
Sie lächelte zum Abschied, wieder einmal zufrieden damit, zu bleiben, wo sie war. Vielleicht würde sie es eines Tages bis zu dem Bett an der Wand schaffen. Bisher hatte sie jede Nacht friedlich hier geschlafen, zusammengerollt in ihrem großen, weichen Sessel vor dem Feuer. Mit einem Nicken ließ Strell sie allein und schloss leise die Tür hinter sich. Vollkommen zufrieden machte Alissa die Augen zu und fiel in seligen Schlaf.
– 23 –
E ntscheide du, welchen wir nehmen. Es war schließlich deine Idee«, sagte Alissa. Ein wenig gereizt blickte sie an Kralle vorbei, die auf ihrer Schulter hockte, zu Strell hinüber. Sie standen in der kahlen Eingangshalle der Feste und starrten auf die sechs Gänge, die zu den einzelnen unterirdischen Nebengebäuden führten. Die Tunnel waren dunkel, doch die Halle war vom Licht des frühen Morgens erhellt, das durch die riesigen Fenster über der Tür an der Ostwand hereinströmte.
Strell reichte ihr eine brennende Kerze. »Schön, wenn es dir gleich ist, dann sehen wir uns noch einmal den ersten Keller an.«
»Die Stallungen?«, fragte sie und blickte zu der Bezeichnung auf, die in den Stein über dem Eingang gemeißelt war. »Warum hätte mein Papa es in einem Stall verstecken sollen? Da unten ist doch nichts als Staub.«
»Ach«, neckte er sie, »du hast also doch eine Meinung dazu.«
Alissa seufzte. Die Inschriften hatten sie entdeckt, als sie die Keller zum ersten Mal erkundet hatten. Die Tunnel waren in der Schrift bezeichnet, die sie lesen konnte. Dass sie am Ende der Gänge jeweils genau das vorfanden, was sie vorausgesagt hatte, bewies Strell endlich, dass sie tatsächlich lesen konnte. Sein zögerliches Eingeständnis brachte sie zu der Überzeugung, dass er ihr schon die ganze Zeit geglaubt hatte. Er genoss es nur zu sehr, sie aufzuziehen, als dass er es früher zugegeben hätte.
Die Ställe hatten sie dunkel, muffig und leer vorgefunden. Der Tunnel mit der Bezeichnung »Quartiere« enthielt nur Reihen von trübselig aussehenden Betten. Auch die Küchen hielten, was die Inschrift versprach, doch es fand sich nicht einmal ein Löffel darin. Erst als sie den Gang mit der Inschrift »Verderbliche Waren« näher untersuchten, fanden sie etwas Interessantes. Der Lagerraum enthielt mehr Essen, als eine gesamte Festung voller Menschen in einem ganzen Jahr essen konnte, sämtlich unter Bannen konserviert, die sich bei Berührung auflösten und die Nahrungsmittel dem gewöhnlichen Verderb überließen.
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