Alissa 1 - Die erste Wahrheit
ihre Stimme ein wenig verletzt klang.
Bailic zögerte und wartete offensichtlich auf mehr. Als er erkannte, dass Alissa von sich aus nichts weiter sagen würde, winkte er ab. »Sie hat wahre Wunder bewirkt bei meinem …« Er verstummte und strich langsam mit dem Zeigefinger über die blasse Narbe auf seiner Wange. Sie schien über Nacht verheilt zu sein. »Habt Ihr noch mehr davon?«
»Nein«, antwortete Alissa knapp und spürte, wie sie errötete.
»Welch ein Jammer. Sagt mir, was Ihr braucht, um sie herzustellen.« Er lächelte verschwörerisch. »Dort unten lagern auch ein, zwei Ballen Seide. Vielleicht könnten wir beide einen eigenen Handel abschließen? Ihr braucht nicht schüchtern zu sein. Frauen sind oft sogar geschickter im Feilschen.«
Alissa hob den Kopf und reckte das Kinn. »Strell feilscht immer für mich«, erklärte sie scharf. Irgendwoher wusste Bailic, dass sie sich mit Strell gestritten hatte, und er versuchte, es noch schlimmer zu machen. Das Abscheuliche war, dass sie am liebsten zugestimmt hätte, nur um sich an Strell zu rächen.
»Gibt es etwa Schwierigkeiten?«, flötete Bailic, dessen aufgesetzter Charme jämmerlich und unangenehm war. »Ich kam nicht umhin, Euren Streit vorhin mit anzuhören.«
»Nein«, brachte Alissa heraus und schaffte es sogar, überrascht zu klingen. »Ganz und gar nicht.«
»Tatsächlich.« Seine blassen, verwaschenen Augen wurden schmal, und er beugte sich vor.
Er war ihr viel zu nahe und sie konnte nicht anders, als einen Schritt die Treppe hinunterzugehen. »Ich muss mich um das Abendessen kümmern«, erklärte sie hastig und wandte sich zum Gehen. Sie rannte beinahe die Treppe hinunter, und der Lärm ihrer Stiefel hallte von den harten Wänden wider. Das war die längste Unterhaltung, die sie je mit Bailic geführt hatte, und ihr war beinahe schlecht. Strell hatte immer die Tabletts nach oben gebracht, und nun meinte sie auch zu wissen, warum.
»Was war ich doch für ein Maulesel«, sagte Alissa und verlangsamte ihren Schritt, als sie den nächsten Treppenabsatz erreichte. Strell hatte seit dem Tag, als er sie aus der Schlucht gerettet hatte, nichts anderes getan, als ihr zu helfen. Und zu welchem Zweck? Er hatte durch den Aufenthalt hier nichts zu gewinnen. Er schuldete ihr gar nichts, und sie hatte ihm seine Freundlichkeit mit scharfen Worten und Jähzorn vergolten.
Vor lauter Schuld und Reue lief sie noch langsamer. Sie beschloss, sofort Strell zu suchen und sich zu entschuldigen. Sie zögerte, dachte sich dann, dass er wohl nicht mehr in den Stallungen sein konnte, machte kehrt und ging zu seinem Zimmer. Den ganzen Weg den Flur entlang überlegte sie, was sie sagen könnte, um es wiedergutzumachen, doch ihr fiel nichts ein außer: »Es tut mir leid. Du hattest recht.«
Als sie seine Tür erreichte, hatte sie sich in tiefste Reue hineingesteigert. Wie, fragte sie sich, hatte sie nur so stur sein können? Strell war nur hilfsbereit gewesen, wie immer. Alissa blieb vor seiner Tür stehen und zögerte, als sie bemerkte, dass diese einen Spaltbreit offen stand.
»Strell?«, fragte sie leise und schob die Tür auf. Er war nicht da, doch ihr wurde eiskalt, als sie sah, was sich hier verändert hatte. Sein Sessel. Strell hatte seinen Sessel von ihrem Kamin weggeräumt.
In der Hoffnung, dass sie sich täuschte und er sich irgendwo einen zweiten Sessel besorgt hatte, öffnete Alissa ihre Zimmertür. Nur ein Sessel stand vor dem Kamin. Ihrer. Strells war weg. Er hatte ihn geholt und ihren einsam und allein am Kamin stehen lassen. Wie vor den Kopf geschlagen stand Alissa auf ihrer Schwelle und blinzelte verwundert. Sie stritten sich doch ständig, dachte sie betroffen, aber das hatte er noch nie getan! Er wusste, dass es nie lange dauerte, bis sie sich beruhigt hatte und sich bei ihm entschuldigte. Sie musste ihn wirklich tief verletzt haben.
»Ach, Strell«, flüsterte sie, »es tut mir so leid.« Eine bloße Entschuldigung würde jetzt gewiss auf taube Ohren stoßen, dachte sie kläglich. Ihr verfluchter Hitzkopf hatte ihr einen schönen Schlamassel beschert, und sie konnte nur sich selbst die Schuld daran geben.
– 27 –
B ailic glitt die Treppe hinab zur großen Halle. Seine neue Meister-Weste und die Schärpe streiften flüsternd die Stufen, und das Geräusch freute ihn. Er hatte die Gewänder Vor Jahren in einer Truhe gefunden, doch bis gestern nie daran gedacht, sie anzuziehen. Die bodenlange Weste stand ihm mit seinem hohen Wuchs sehr
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