Alissa 1 - Die erste Wahrheit
gut. Sogar der jungen Frau waren die neuen Sachen aufgefallen, trotz ihrer finsteren Laune.
Am Fuß der Treppe hielt er inne und lehnte sich ans Geländer. Es war still. Nur ein paar Staubflocken, die dem allnächtlichen Putz der Feste entronnen waren, tanzten in den Strahlen der frühen Nachmittagssonne. Er lauschte und versuchte, seine Gäste allein durch sein Gehör ausfindig zu machen. Gestern hatte es ein Zerwürfnis gegeben. Er war nicht sicher, wie die Dinge jetzt standen oder wo die beiden steckten.
Das Abendmahl von gestern war weit unter dem hohen Standard zurückgeblieben, an den er sich inzwischen gewöhnt hatte. Der bittere Geruch verbrannten Brotes hatte in sämtlichen unteren Stockwerken der Feste gehangen. Die Kartoffeln waren nicht durchgekocht und hart. Doch die Karotten waren das Schlimmste gewesen, beinahe zu Brei zerfallen.
Es war ihm gleichgültig gewesen. Das Essen war für ihn weniger interessant als seine beiden Gäste. Sie waren viel unterhaltsamer als die klebrig-süße Liebesgeschichte, die der Pfeifer nach dem Abendessen so holprig erzählt hatte. Bailic hatte bald nicht mehr zugehört und lieber auf die Reaktionen des Mädchens geachtet. Dazu hatte er eigens seinen schweren Stuhl vom Feuer wegrücken müssen, doch es war die Mühe wert gewesen. Das war der zweite Stuhl, den er gestern verrückt hatte – und bei weitem der leichtere.
Stirnrunzelnd erinnerte er sich an seine frustrierenden Versuche, den Sessel des Pfeifers aus Mesons altem Zimmer zu entfernen, ohne die Schwelle zu überschreiten. Schließlich hatte er Seile danach werfen müssen, die am anderen Ende beschwert waren. Sobald er den Sessel erst im Flur hatte, stieß er ihn ins Zimmer des Pfeifers, ohne einzutreten, denn er wollte das Schicksal nicht herausfordern. Er hatte Glück gehabt, dass sie ihn nicht ertappt hatten. Er hatte beträchtlichen Lärm gemacht.
Er kniff die Augen gegen die schmalen Streifen Sonnenlicht zusammen und wandte den Blick den Kellertunneln zu. Vor seiner Tür stand ein geschnitztes Tischchen für sein Tablett, das aus einem der Lagerräume stammen musste. Und die Mahlzeiten waren vielfältiger geworden. Kaum ein Abend, an dem neben Kartoffeln oder Reis nicht etwas frisches Gemüse oder Obst auf den Tisch kam. Vielleicht sollte er hinuntergehen und etwas Wein holen. Womöglich würde er ein paar Antworten bekommen, wenn er ihnen die Zungen damit löste. Und diese Zungen würden sich lösen müssen, wenn er irgendwelche Fortschritte machen wollte, ehe der Schnee schmolz und sein Gefängnis wieder weniger sicher wurde.
Er spürte einen Stich der Angst. Bailic unterdrückte ihn hastig und versicherte sich, dass er noch genug Zeit hatte. Falls seine Versuche, ihr Zerwürfnis aufzubauschen, erfolgreich verliefen, würde gewiss einer von ihnen beginnen, sich ihm anzuvertrauen. Bailic wandte sich wieder den Tunneln zu. Im Augenblick sagte keiner von beiden irgendetwas.
Halbherzig sandte Bailic seinen Geist in die Tunnel aus, um sie allein kraft seiner Gedanken zu finden, und heute, nachdem er wochenlang darin versagt hatte, erhielt er eine leise, wirre Antwort. Seine Pfade waren beinahe verheilt.
»Endlich!«, stieß er aus. Eisige Freude erfasste ihn. Bailic zog sich in sich zurück und betrachtete mit seinem inneren Auge sein Netzwerk. Es war noch immer mit Asche bedeckt, doch als er die Verbindung zwischen den Pfaden und seiner Quelle herstellte, sah er zu seiner Freude, dass die Energie ein wenig stockend wieder durch die richtigen Kanäle strömte. Der Fluss war noch nicht ganz sauber. Er durfte es nicht wagen, seine Pfade zu benutzen, bis sie vollständig verheilt waren. Aber vielleicht war es schon heute Abend so weit.
Bailic wirbelte herum und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, um so schnell wie möglich in seine Gemächer zu kommen. Es gab unzählige Möglichkeiten, Zungen zu lösen. Er hatte die beiden letzten Wochen des erzwungenen Wartens nicht untätig verbracht. Er hatte einen Plan, sicherer als Wein, trickreicher als Schmeichelei und gefahrloser als Gewalt. Und nun konnte er beginnen, ihn in die Tat umzusetzen.
– 28 –
D u siehst schrecklich aus«, flüsterte Alissa ihrem Bild in dem kleinen Spiegel zu, der auf dem Bord über ihrem Kaminsims stand. Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Graue Augen sind nicht gerade betörend, wenn sie rot geweint sind. Ihre Kleider waren an manchen Stellen fast durchgewetzt und hatten, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher