Alissa 1 - Die erste Wahrheit
ihre Herkunft zu entlocken, schienen stets von dem Pfeifer unterbrochen zu werden. Bailic runzelte die Stirn. Manchmal kam es ihm beinahe so vor, als wolle der Mann ihn absichtlich verärgern.
Bailic rutschte auf seinem Sessel herum und wandte seine Gedanken dem Tiefländer zu. Der Pfeifer hatte das großspurige, gewandte Auftreten, das die meisten Bewahrer auszeichnete. Und er hatte einen starken Willen, überlegte Bailic und klopfte mit der nächsten Nuss auf den Tisch. Er nahm eine zweite dazu und hielt die Hand über die grüne Schüssel. Zögerlich ließ er eine Nuss hineinfallen.
»Und die Salbe«, sagte er, rieb sich die Wange und genoss die Abwesenheit von Schmerz. Seine Hand senkte sich auf die Nüsse, und er nahm eine auf. Der Pfeifer hatte die Salbe zur Sprache gebracht, also musste sie ihm gehören. Eine Nuss fiel klappernd in die grüne Schüssel. Fünf, und nur eine für das Mädchen.
Bailic kniff unentschlossen die Augen zusammen. Die Schüssel des Pfeifers war entschieden voller, doch irgendetwas fühlte sich nicht richtig an. Er musste mehr wissen, vor allem über das Mädchen. Ein gemächliches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Ja, er würde die Zeit, bis seine Pfade vollständig geheilt waren, ganz ihr widmen. Und wenn er die Kraft seiner Quelle wieder in vollem Umfang nutzen konnte, würde er gemäß seinen Erkenntnissen handeln. Er hatte jahrzehntelang gewartet; er konnte noch ein wenig länger ausharren – aber nur ein wenig.
– 25 –
A utsch«, zischte Alissa, als ihr die Nadel ausrutschte. Sie legte ihre Näharbeit beiseite, steckte sich den Daumen in den Mund und sah dann nach, ob er blutete. Das tat er. Die Morgensonne fiel herein und erhellte den großen Speisesaal, und sie blickte aus dem Fenster und genoss das Erlebnis, Schnee zu sehen, aber nicht zu frieren.
Strell schaute vom Feuer auf, wo er zufrieden saß und Apfelscheiben auf ein Stück Zwirn fädelte. »Warum benutzt du keinen Fingerhut?«, fragte er mit leichtem Spott in der Stimme.
»Ich kann die Nadel nicht so genau führen, wenn ich einen trage«, brummte sie.
»Das muss allemal besser sein, als sich noch vor dem Abendessen sechsmal in den Finger zu stechen.«
Erneut betrachtete sie ihren Daumen. Sie beschloss, tatsächlich etwas darüberzuziehen, stand auf und räkelte sich. Lächelnd legte sie ihr Nähzeug weg. Wenn alles verlief wie geplant, müsste sie nächste Woche damit fertig werden. Dann konnte sie sich Strells neuer Kleidung widmen. Sie hatte schon einen Schnitt, der ihm passen müsste, auf einem hübschen grünen Stoff vorgezeichnet, nach dem Vorbild der Kleidung, die ihr Vater früher getragen hatte, weil sie keine anderen Schnitte kannte. Es sollte eine Überraschung werden. Wenn sie jeden Abend ein wenig daran arbeitete, nachdem er ihr Zimmer verlassen hatte, müsste sie rechtzeitig zur Wintersonnenwende damit fertig werden.
Strell hob den Kopf, als sie zu dem Durchgang schritt. »Wo gehst du hin?«
»In mein Zimmer. Ich will etwas auf meinen Daumen stecken.«
»Einen Fingerhut zum Beispiel?«, neckte er sie.
Alissa grinste. »Nein. Hast du meinen Tiegel mit der Salbe gesehen? Offenbar habe ich ihn verlegt.«
Strell stand auf und hängte seine Schnur mit den Apfelscheiben in den Kamin. »Ach! Ich habe ganz vergessen, dir das zu sagen«, erklärte er und setzte sich wieder zwischen seinen Äpfeln und Zwirnrollen zurecht. »Das war es, was Bailic haben wollte.«
Alissa blieb im Durchgang zur großen Halle stehen und blinzelte erstaunt. »Wofür?«
»Die Stoffe«, erwiderte er hastig. »Du bist ins Lager zurückgelaufen, bevor ich es dir sagen konnte, und dann habe ich es vergessen. Das war unser Handel. Die Salbe im Tausch gegen so viel Stoff, wie du gebrauchen kannst.« Strell blickte auf und lächelte unsicher. »Abgemacht und abgemacht.«
Alissa schloss mit einem hörbaren Schnappen den Mund. »Das war meine Salbe.«
»Und jetzt ist es dein Stoff. Du hast doch gesagt, du würdest alles dafür geben.«
»Die Salbe meiner Mutter?« Alissa spürte, wie Hitze in ihr hochstieg. »Was soll ich denn jetzt nehmen, wenn Kralle mich kratzt?«
Strell griff nach einer Handvoll Apfelscheiben. »Wann hat sie dich denn zuletzt gekratzt?«
»Darum geht es nicht«, sagte sie und verstand nicht, wie er so anmaßend sein konnte.
»Na, worum geht es denn dann?«
Alissa machte eine zornige Geste. »Du hast Bailic meine Salbe gegeben. Meine Mutter hat sie gemacht. Ich suche schon seit drei Tagen
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