Alissa 1 - Die erste Wahrheit
danach! Wann genau wolltest du mir denn sagen, dass du sie weggegeben hast?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich es vergessen habe.« Seine Wangen röteten sich.
»Warum hast du mich nicht vorher gefragt?«
Strell blickte auf. Seine Brauen waren gerunzelt. »Ich dachte, das hätte ich. Hör mal, es tut mir leid. Du hast gesagt, du würdest alles geben, um diesen Stoff zu bekommen. Ich dachte, das wäre auch so gemeint.«
»Aber das war meine Salbe!«
»Und jetzt kannst du dafür bei den Kurzwaren alles haben, was du willst.« Strell senkte den Kopf und stach seine dicke Nadel durch eine Apfelscheibe. Seine Schultern waren verkrampft, und er wirkte verärgert.
»Alles bis auf die Seide«, brummte sie und lehnte sich an den Bogen des Durchgangs.
Strell seufzte. »Asche. Ich finde, ich habe einen guten Tausch für dich ausgehandelt. Außerdem«, fügte er düster hinzu, »wollte Bailic nichts von meinen Sachen. Offenbar besitze ich nichts von Wert.«
Alissa reckte das Kinn. »Was ist mit deinen Flöten! Auf der einen spielst du nicht einmal.«
Strell kniff die Augen zusammen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt, Alissa. Und du bist diejenige, die den Stoff benutzen wird, nicht ich.«
Alissa löste sich von dem Bogen. »Weißt du, was ich glaube?«, sagte sie barsch. »Ich glaube, du bist nur neidisch, weil ich etwas besaß, was er wollte, und du nicht.«
»Sei nicht albern.« Seine Stimme klang hart.
»Das ist es, nicht wahr?«, rief sie triumphierend. »Deswegen hast du ihm das Einzige gegeben, was ich noch von meiner Mutter hatte.«
Strell runzelte die Stirn. »Das stimmt nicht. Du hast viele Erinnerungsstücke an deine Mutter. Ich habe nichts von meiner. Ich besitze überhaupt nichts. Ich finde, ich habe einen guten Handel für dich geschlossen. Sieh doch, was du dafür bekommen hast!«
Zorn überwältigte sie, und sie verschränkte ärgerlich die Arme.
»Weißt du was? Dein Großvater hat doch einmal gesagt, wenn du einen Handel abschließt, der entschieden zu deinen Gunsten ausfallt, dann hast du wahrscheinlich etwas übersehen.«
Strell biss die Zähne zusammen. Wortlos stand er auf und stapfte hinaus, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.
Alissa folgte ihm in die große Halle. »Ich bin noch nicht fertig!«, rief sie ihm nach. »Wo willst du hin?«
»Irgendwohin, wo du nicht bist!«, schrie Strell über die Schulter zurück.
»Schön!«, rief Alissa seinem Rücken nach. »Geh und versteck dich in deinen stinkenden Stallungen. Ist mir doch gleich!« Er verschwand im ersten Tunnel. Sie blieb allein zurück.
Alissa holte zittrig Atem. »Wie kann er es wagen, meine Salbe wegzugeben, ohne mich zu fragen?«, brummte sie, ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen und schob ihr Garn zu einem unordentlichen Haufen zusammen. »Was für ein Dummkopf nimmt etwas, das jemand anderem gehört, und tauscht es ein?« Und sei es gegen so viel Stoff, wie sie gebrauchen konnte, fügte sie in Gedanken hinzu und spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Der feinste Stoff, den sie je verarbeitet hatte.
Ihr Zorn wich der Reue, und sie blickte sich in dem leeren Raum um. Es war still. Das gefiel ihr nicht. Tief im Innern wusste sie, dass Strell einen hervorragenden Tausch gemacht hatte. Bailic brauchte nicht ein Zehntel von den Dingen, die in den Kellern gelagert waren. Ihre Salbe war vermutlich das Einzige, was er nicht schon besaß. Und sie hatte tatsächlich gesagt, dass sie alles für diesen Stoff geben würde.
Alissa saß im stillen Speisesaal, und ihr Herzschlag beruhigte sich. Sie fühlte sich elend. Vielleicht, dachte sie und schlug die Augen nieder, sollte sie sich entschuldigen. Sie hatte sich nur deshalb aufgeregt, weil sie überrascht gewesen war, sagte sie sich. Und weil er so gleichgültig gewirkt hatte. Wieder einmal war ihr Temperament mit ihr durchgegangen, sie hatte ihrer scharfen Zunge freien Lauf gelassen, ohne einen Gedanken daran, ob sie jemanden damit verletzte. Seine Familie in ihren Streit hineinzuziehen war nicht schön von ihr gewesen. Strell hatte nur getan, worum sie ihn gebeten hatte. Asche, dachte sie. Sie war eine Närrin.
Vernehmlich stieß sie den Atem aus. Sie hasste es, sich zu entschuldigen, doch sie sah keine andere Möglichkeit. Sie war schon ruhiger, kam sich aber immer noch sehr dumm vor, als sie Strell in die Stallungen folgte. Und tatsächlich hörte sie seine zornige Stimme schon nach der Hälfte des langen
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