Alissa 1 - Die erste Wahrheit
sie sauber waren, unverkennbar schon bessere Tage gesehen. Und ihr Haar? Es fiel ihr bereits beinahe bis auf die Schultern, und sie verabscheute es.
Das Dämmerlicht draußen sagte ihr, dass es schon fast an der Zeit war, das Abendessen zu kochen. Beim Gedanken daran drehte es ihr den Magen um, und ihr wurde schlecht. Gestern Abend war Strell sehr schweigsam gewesen und hatte sie nicht einmal angesehen, während sie gemeinsam die Mahlzeit zubereitet hatten. Sie war den Tränen nah gewesen und hatte sich nicht getraut, etwas zu sagen, aus Angst, sie könnte alles noch schlimmer machen. Sie hoffte, dass sie heute Abend den Mut finden würde, sich zu entschuldigen, und dass Strell ihr dann verzeihen würde.
»Natürlich«, sagte Alissa bitter, »wenn die Wölfe des Navigators auf die Erde kommen, um Kaninchen zu jagen.« Sie hatte Strell den ganzen Tag nicht gesehen. Das sagte ihr deutlicher als Worte, dass Zeit allein nicht reichte, um ihn zu erweichen.
Alissa wandte sich bedrückt von ihrem Spiegelbild ab. Sie wollte nicht hinuntergehen und aussehen wie eine Bettlerin. Vielleicht sollte sie ihren neuen Rock tragen. Sie war heute Morgen damit fertig geworden, weil sie sich in ihrem Zimmer verkrochen und sich mit Arbeit eingedeckt hatte. Ihrer Meinung nach war der Stoff viel zu gut für den alltäglichen Gebrauch, aber warum sollte sie etwas daraus schneidern, wenn sie es dann nicht trug?
Ihr Blick glitt zu dem Stoff, den sie für Strell ausgesucht hatte. »Ich könnte ihn ebenso gut aus dem Fenster werfen«, sagte sie laut. Sie konnte sich Strells Freundschaft nicht zurückkaufen. Vermutlich würde er ihr Geschenk jetzt nicht einmal mehr annehmen. Sie biss sich auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten, knüllte den weichen Stoff zusammen und stopfte ihn unter ihr Bett. Sparsam, wie sie als Bauerntochter nun einmal war, würde sie später sicher Verwendung dafür finden.
Alissa kämpfte darum, ruhig zu atmen, die Tränen nicht überfließen zu lassen und die grässliche Enge zu lösen, die ihr die Brust zuschnürte. Sie holte ihren Rock und zog sich rasch um. Sie hatte schon ewig keinen Rock mehr getragen, und ihre Stiefel sahen seltsam aus, wie sie da unter dem Saum hervorlugten. Sie bürstete sich das Haar und sah nun zumindest nicht mehr aus wie etwas, das Kralle ihr gebracht hatte. Im letzten Augenblick band sie sich noch das Haar mit einem Streifen von dem grünen Stoff zurück, der für Strell gedacht gewesen war.
Der verlockende Duft von Strells Kochkünsten durchzog den Flur, als Alissa ihre Tür hinter sich zuzog. »Jetzt hast du es endgültig geschafft«, flüsterte sie und bekam ein schlechtes Gewissen. Sie war sicher, dass Strell noch zorniger auf sie sein würde, weil sie ihm das Kochen allein überlassen hatte. Deshalb eilte sie den Flur entlang und die Treppe hinunter. Bailics Stimme zerriss die Stille, als sie den Treppenabsatz über der großen Halle erreichte, und sie erstarrte.
»Was soll das heißen, sie ist unpässlich, Pfeifer?«, brüllte er mit seiner tragenden Stimme. Alissa hätte beinahe kehrtgemacht, doch sie konnte Strell nicht allein Bailics Wut ausbaden lassen. Also kreuzte sie die Finger, was Glück bringen sollte, schlich die letzten Stufen hinab und betrat den Speisesaal.
»Äh, da seid Ihr ja, meine Liebe.« Bailics Zorn verflog, als er sie kommen hörte. Er erhob sich, und sie ging rasch um den Tisch herum, um seinen ausgestreckten Händen auszuweichen. Einen Moment lang blitzte sein Ärger hervor, eher er ihn hinter dem falschen Lächeln verbarg, das er ihr so oft schenkte.
»Bitte«, sagte Bailic, »setzt Euch.« Mit großer Geste wies er auf die Tafel, und ihr fiel sofort auf, dass nur für zwei gedeckt war. Alissa errötete stumm.
»Hier.« Strell stand plötzlich neben ihr. »Nimm meinen Platz.«
»Nein«, unterbrach Bailic ihn glatt. »Erweist mir die Ehre.«
Alissa zögerte und fragte sich, ob sie lieber in die Küche gehen und sich ein eigenes Gedeck holen sollte.
»Ich bestehe darauf«, sagte Bailic energisch und richtete sich zu voller Größe auf.
Nun konnte Alissa nicht mehr ablehnen und ging widerstrebend zum Kopfende der Tafel. Bailic rückte ihr den Stuhl zurecht und drehte ihr Becher und Teller richtig herum. Er kicherte leise, als er sich neben sie setzte. Alissa warf einen verstohlenen Blick zu Strell hinüber und erschrak über dessen vollkommen ausdruckslose Miene.
»Pfeifer!«, bellte Bailic so laut, dass sowohl Strell als auch Alissa
Weitere Kostenlose Bücher