Alissa 1 - Die erste Wahrheit
zusammenfuhren. »Würdet Ihr mir bitte«, fuhr er leiser fort, »ein neues Gedeck bringen?«
Strell schluckte schwer und entschwand in die Küche. Alissa starrte auf ihren Teller, während sie darauf wartete, dass er zurückkam. Das Feuer war größer, als sie es sich in ihrer Sparsamkeit sonst gestattete, und der Saal war wunderbar warm. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Bailics Finger lautlos auf der Tischplatte trommelten. Die weiße Haut ließ einige frische rote Kratzer und etwas schmierigen Ruß umso deutlicher hervortreten.
»Eure neuen Kleider stehen Euch gut, meine Liebe«, bemerkte er, und sie erstarrte und wünschte, sie hätte sich nicht umgezogen. »Ihr beweist großes Geschick mit der Nadel. Sagt mir, Pfeifer«, verlangte er, als ein Teller vor Bailic abgestellt wurde, »meine Augen sind heute Abend besonders müde. Ist das Tuch, das Eure Gefährtin sich ausgesucht hat, zufälligerweise grau?«
»Nein«, antwortete Strell mit angespannter Stimme und setzte sich ans andere Ende der Tafel, an Alissas angestammten Platz. »Der Stoff ist blaugrau, ganz ähnlich wie die Farbe auf der Unterseite von Wolken, die einen heftigen Sommersturm ankündigen.«
»Tatsächlich«, sagte Bailic scharf.
Strells gefühlvolle Stimme überraschte Alissa, und sie blickte vom Tisch auf und erschrak über den Kummer, den sie in seinem Blick erkannte. Nicht einmal Bailic entging die Wirkung, die seine Frage auf Strell gehabt hatte. Vielleicht, dachte sie, und ein Fünkchen Hoffnung regte sich in ihr. Vielleicht war er nicht so zornig, wie sie gedacht hatte. Vielleicht würde er ihr zumindest zuhören. Sie lächelte ermunternd, und Strell starrte sie einen Moment lang ausdruckslos an, bevor er die Augen niederschlug.
»Ich wüsste gern«, sagte Bailic und füllte erst sein Glas, dann Alissas, »ob mein Heim Euch zusagt?«
»Ja, selbstverständlich«, antwortete sie schüchtern, da seine Frage offenbar an sie gerichtet war.
»Aber selbstverständlich«, wiederholte er bestimmt. » Bitte , nehmt von den Himbeeren, meine Liebe. Sie sind vermutlich älter als Ihr und ich zusammengenommen, doch so frisch wie an dem Tag, als sie gepflückt wurden. Es freut mich ja so, dass Ihr die Vorräte gefunden habt.« Bailic lud einen gewaltigen Berg Beeren auf ihren Teller, und sie erstarrte. Bailics Blick huschte zwischen Strell, Alissa und den Beeren hin und her, während er nachdenklich mit dem Finger die alte Narbe entlangfuhr, die sich bis über seinen Hals hinabzog. Alissa warf Strell einen nervösen Blick zu, und der zuckte kaum merklich mit den Schultern.
»Euer Vogel ist heute Abend nicht bei uns, nicht wahr?«, murmelte Bailic und rieb sich die rot zerschrammten Fingerknöchel. Ehe sie antworten konnte, lächelte er väterlich und fragte: »Seid Ihr vielleicht in letzter Zeit einmal im Garten spazieren gegangen? Der Schnee liegt dieses Jahr ungewöhnlich hoch. Ich hoffe doch, das bedeutet keine Flut im Frühjahr. Aber hier auf dem Dach der Welt sind wir davor sicher, also macht Euch keine Sorgen.«
Bailic blieb während der Mahlzeiten üblicherweise bei einem Thema und zerpflückte es bis in die kleinsten Details. Heute jedoch wechselte er von einem Gesprächsstoff zum nächsten, so rasch und durcheinander, dass es ihr den Atem verschlug. Alissa hing ständig in der Luft und wusste nicht, was sie sagen sollte. Bailic schien gar nicht zu bemerken, dass er die Unterhaltung praktisch allein führte und auf die meisten seiner Fragen nicht einmal eine Antwort erhielt.
Strell wirkte elend und verloren, starrte blind ins Feuer und ignorierte alles um sich herum. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Alissa fragte sich, ob Bailic ihn vielleicht mit einem Bann belegt hatte, entschied dann aber, dass sie das hätte spüren müssen. Strell war wohl nur ebenso sprachlos wie sie angesichts des ständigen Themenwechsels.
Doch das Feuer war warm, viel wärmer, als sie es sich erlaubt hätte, und besänftigend.
Bailics Strom leiser, angenehmer Worte ließ nie nach, und obwohl sie sich bemühte, seinen Gedanken zu folgen, fiel ihr das immer schwerer. Es war einfacher, ihn zu ignorieren und den Flammen bei ihrem Tanz zuzusehen. Behagliche Mattigkeit senkte sich auf sie herab, und sie gähnte, schläfrig von der Wärme.
»Ja«, hörte sie Bailic sagen, »das ist ein guter Anfang. Vielleicht können wir es sogar noch besser machen. Pfeifer? Wenn Ihr so gütig wärt? Heute Abend keine Geschichte. Ich möchte Musik hören, die ein quengelndes Kind in
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