Alissa 1 - Die erste Wahrheit
draußen zu bleiben und sich von einem riesigen Fleischfresser beäugen zu lassen.
»Nutzlos!«, rief er. »Tretet zurück, ich will versuchen, mich hineinzuschwingen.«
Der Raku schwebte einen Steinwurf entfernt in der Luft und schlug wild mit den Flügeln, um an einem Fleck zu bleiben. Die Windstöße zerrten an Strell, als er unter Schmerzen die Finger aus dem Felsspalt zog. In seiner Panik vergaß er, dass seine verkrampften, gefühllosen Hände außerdem glitschig und mit Blut beschmiert waren. Er griff nach einem vorhin noch sicheren Halt und schnappte nach Luft, als seine Finger ausglitten.
»Neiiin!«, schrie er und wedelte verzweifelt mit den Armen. Eine Fingerspitze blieb in einem Riss im Fels hängen. Die Zähne vor Anstrengung zusammengebissen, hielt er sich einen Herzschlag lang daran fest. Dann noch einen.
Der Raku, den er darüber vergessen hatte, schnaubte laut.
Strell fuhr erschrocken zusammen. Er verlor den Halt. Er stürzte, die Arme in einer letzten Suche nach Sicherheit weit ausgestreckt. Das war’s, dachte er traurig. Die Welt breitete sich vor ihm aus, schien aber nicht näher zu kommen, während die Luft an seinen Ohren vorüberpfiff. Die Aussicht auf sein unmittelbar bevorstehendes Ende stürzte ihn offenbar in eine Art Wahn.
»Ich falle, falle, falle«, sang er, halb verärgert über die Absurdität seines Ablebens. Er hatte sich stets vorgestellt, dass er einmal im Bett sterben würde, in einer schicksalsschweren, traurigen Szene, umringt von seinen Kindern und Enkelkindern – und nicht durch den Sturz von einer Felswand bei dem Versuch, den gefangenen Meister einer legendären Festung zu befreien. Was, so fragte er sich, hätte seine Mutter nur hierzu gesagt?
»Ich falle tief, tief, tief hinab«, brabbelte er vor sich hin und schloss die Augen. Welch ein langer Fall, dachte er. Würde er je unten ankommen? Und so plötzlich, dass er unwillkürlich die Augen aufriss, spürte er eine scharfe Wendung.
»Fallen?« Er rüttelte sich aus seinen Wahnvorstellungen auf. »Ich falle gar nicht, ich …« Strell schluckte. »Ich fliege?«, fragte er mit bebender Stimme. Der Boden breitete sich noch immer unter ihm aus, doch er wurde nicht mehr von der Luft gepeitscht. Ungläubig blickte Strell auf, in die goldenen Augen des Rakus. Ein Hinterbein mit furchtbaren Klauen war fest um Strells Brust unterhalb der Arme geschlungen. Wie eine Puppe hing Strell da, der gewaltigen Bestie hilflos ausgeliefert.
Schnaubend wandte der Raku seine Aufmerksamkeit wieder der Umgebung zu. Sie waren beinahe bis zum Gipfel des hohen Berges aufgestiegen, und der Raku hatte offenkundig Mühe, sein Gewicht zu tragen.
»Du kannst mich hier absetzen!«, scherzte Strell laut, um den Wind zu übertönen. Er wusste, dass er starr vor Angst sein sollte, doch so war es nicht. Er hatte einen mörderischen Bewahrer überlistet, war binnen weniger Augenblicke geheilt worden, beinahe erfroren, am eigenen Blut abgerutscht und eigentlich in den sicheren Tod gestürzt – und das alles vor dem Mittagessen. Von einem Raku gerettet zu werden fiel da nicht weiter ins Gewicht.
Mit einem Schnauben, das beinahe wie ein Lachen klang, wendete der Raku. In einer gemächlichen Spirale schraubte er sich abwärts. Dann verschlug es Strell den Atem, als er scharf hochgerissen wurde, weil die Bestie plötzlich vor dem herabgestürzten Gitter bremste. In der Luft hängend, streckte der Raku vorsichtig ein klauenbewehrtes Hinterbein aus und packte das Gitter, das noch an den unteren Scharnieren hing. Strell wurde von heftigen Böen gepeitscht, während der Raku mit den Flügeln schlug, um sich in Position zu halten.
Metall stöhnte und kreischte, als der Raku an den schweren Gitterstäben zerrte; der Bann war nun offenbar wirkungslos, da das Tor nicht mehr stand. Steinsplitter rieselten herab, bis das Gitter sich mit einem letzten Knirschen und einem gewaltigen Ruck vom Fels löste. Strell unterdrückte einen Aufschrei, als sie unter dem Gewicht des Gitters plötzlich absackten. Dann ließ der Raku es fallen, und gemeinsam sahen sie zu, wie es immer kleiner wurde. Es dauerte erstaunlich lange, bis es unten aufschlug.
»Voran!«, rief Strell scherzhaft, hilflos im Griff des Rakus baumelnd, und reckte verwegen die Faust. »Lass uns die holde Maid befreien!« Es war einfach zu lächerlich, wie in einer der Geschichten, die er erzählte, um Kinder um sich zu scharen. Er spürte ein Beben, und die Klaue, in der er hing, zuckte rhythmisch. Die
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